Houellebecqs Vision vom Muslimfrankreich

Michel Houellebecq attends a photocall in Venice during the Biennale mostra del Cinema Italy
Michel Houellebecq attends a photocall in Venice during the Biennale mostra del Cinema Italy(c) imago/Manfred Segerer (imago stock&people)
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Soeben erschienen. Literarisch gehört „Soumission“ zu den schlechtesten Romanen von Michel Houellebecq, inhaltlich aber ist er explosiv, vor allem wegen seiner Untergangsrhetorik, des Ekels an der eigenen Kultur, des Fatalismus.

Er hat Paris verlassen und sich an einen geheimen Ort zurückgezogen – aus Erschütterung, sagt er; denn bei den Anschlägen auf die Redaktion von „Charlie Hebdo“ kam ein Freund von ihm um.

Spielt auch Angst mit? Wenn ja, ist sie nur zu verständlich. Am Mittwoch, dem Tag des Attentats, erschien die neueste Ausgabe des Magazins „Charlie Hebdo“. Sie zeigt den rauchenden Autor, der sagt: „2015 verliere ich meine Zähne, 2022 begehe ich den Ramadan.“ Es war exakt der Erscheinungstag seines neuen Romans „Soumission“, der demnächst auch auf Deutsch erscheint. 2022 ist darin ein Wendejahr. Die Wahlen in Frankreich bringen einen Muslimbruder an die Macht – der aus Frankreich mit durchschlagendem Erfolg ein islamisches Land macht.

Kein französischer Schriftsteller hat in den letzten Jahrzehnten so verstört wie Michel Houellebecq mit Romanen wie „Elementarteilchen“ oder „Ausweitung der Kampfzone“. Seine Darstellungen von westlicher Konsumgesellschaft und männlichem Sexfrust, sein düsteres Menschenbild provozierten regelmäßig. Diese Zutaten finden sich auch im neuen Roman – doch neu ist das Szenario eines islamisierten Frankreichs.

Der „moderate“ Islamist regiert

Dieses Thema hätte „Soumission“ auf jeden Fall zu einem der größten, nicht nur literarischen, sondern gesellschaftspolitischen Aufreger seit Langem gemacht. Das Cover von „Charlie Hebdo“ hat jetzt auch die internationale Aufmerksamkeit schlagartig auf den Roman gelenkt. Die Tatsache, dass die Mörder ausgerechnet am Erscheinungstag dieses Romans zuschlugen, ist ein schauerlicher Werbeeffekt.

Es geht aber in Houellebecqs Roman gar nicht um solche Islamisten. Der neu gewählte Präsident Mohammed Ben Abbes verachtet primitive Gewalttäter. Er ist ein gemäßigter Islamist, wie man heute so schön oder eigentlich gar nicht schön sagt, um nicht mordende von mordenden Islamisten abzugrenzen. An die Macht kommt er mithilfe der Sozialisten und gegen den mittlerweile einzigen starken Gegner, den Front National unter Marine Le Pen; die Mitte-links- und Mitte-rechts-Parteien sind bedeutungslos geworden.

Die Linke hilft und nascht mit

Die „von ihrem grundsätzlichen Antirassismus gelähmte Linke“ sei von Anfang an unfähig gewesen, Ben Abbes zu bekämpfen, ja, ihn überhaupt zur Kenntnis zu nehmen, heißt es im Roman. Die Sozialisten bekommen von den Muslimbrüdern nach deren Wahlsieg mehr als die Hälfte der Ministerien; in Sachen Wirtschaft und Steuerpolitik gibt es laut Erzähler ohnehin kaum Divergenzen, nicht einmal in der Sicherheitspolitik. Denn Frankreich steht am Rand des Bürgerkriegs, und die Bruderschaft hat wenigstens Mittel, um die Ordnung wiederherzustellen.

Und dann findet unter Abbes das in jeder Hinsicht heruntergekommene und dem Bürgerkrieg nahe Frankreich „zu einer Zuversicht zurück, wie sie seit den ersten Nachkriegsjahrzehnten mehr als ein halbes Jahrhundert zuvor nicht mehr geherrscht hatte“. Abbes hat eine Vision: eine muslimische Neuauflage des Römischen Reichs unter Einbeziehung von Ländern wie Marokko oder Ägypten. Innenpolitisch hat er einen Erfolg nach dem anderen. Die Kriminalität sinkt in den größten Problemvierteln um das Zehnfache, die bis dahin extrem hohe Arbeitslosigkeit ebenso – denn die Frauen werden nicht zuletzt mit großzügigen Familienzulagen dazu angehalten, zu Hause zu bleiben.

Die Juden gehen von selbst

Ben Abbes wirkt beruhigend traditionell und doch anregend exotisch in einem seiner selbst überdrüssig gewordenen Europa. Die Juden verschwinden vernünftigerweise gleich selbst aus Frankreich, den Katholiken geht es weiterhin gut – diese Großzügigkeit kann sich Ben Abbes leisten, zumal Säkularismus und Liberalismus seine wahren Feinde sind. Zum Islam konvertieren die Katholiken ganz freiwillig, zum Beispiel Uni-Professoren, die so auf den islamisierten Unis zu besser denn je bezahlten Jobs kommen. Auch Houellebecqs Ich-Erzähler konvertiert am Ende, lehrt wieder an der Uni und findet die muslimischen unterwürfigen Frauen gar nicht so schlecht.

Klagt der Roman die Islamisierung Europas und ihre feigen Mitläufer an? Nein. Die Provokation von „Soumission“ ist das Dekadenzdenken des Autors. 2001 hat Houellebecq noch verkündet, der Islam sei die „dümmste Religion überhaupt“, kürzlich erklärte er im Interview, er habe den Koran gelesen, und so schlecht sei der doch nicht. „Ich habe den Eindruck, dass man sich damit arrangieren kann.“

Denn wo, suggeriert Michel Houellebecq, ist die Alternative? „Auf meinem Weg durch Brüssel bin ich am Viertel mit den europäischen Institutionen vorbeigelaufen – dieser düsteren Festung“, erzählt der neo-muslimische Uni-Rektor Rediger. Daraufhin sei er konvertiert. Europa habe eine so „abscheuerregende Verwesung erreicht“, dass es sich nicht mehr selbst retten könne, so wenig wie das spätantike Rom – und das neue „könnte eine große Zivilisation werden...“

Die Schlüsselfigur des Buches ist auch nicht Ben Abbes, sondern ein Hauptvertreter der literarischen Dekadenzströmung im 19.Jahrhundert, Joris-Karl Huysmans. Er konvertierte zum Katholizismus und verklärte das Mittelalter. Der Ich-Erzähler sieht ihn als Alter Ego, die Beschäftigung mit ihm zieht sich durch den Roman. Wenn von Huysmans' „wachsender Verachtung für die Linke“, dessen „Aversion gegen den Kapitalismus, das Geld und alles, was mit bürgerlichen Werten gleichzusetzen war“, die Rede ist, denkt man nicht zufällig an Houellebecq. Die geistigen Wege der zwei Autoren trennen sich erst bei Huysmans Konversion. In der liegt zwar „etwas Geheimnisvolles und Königliches“, aber es bleibt dem Erzähler unzugänglich. Er besucht auf den Spuren Huysmans die Schwarze Muttergottes von Rocamadour, doch „nach einer halben Stunde stand ich, endgültig vom Geist verlassen und auf meinen lädierten, vergänglichen Körper beschränkt, wieder auf und ging traurig...“

Michel Houellebecq ist für Kritiker schwer zu fassen, weil sich bei ihm Plattes und Treffendes so verwirren. Literarisch gehört „Soumission“ zu seinen schlechtesten Romanen, inhaltlich ist das Buch explosiv. Aber nicht als Warnung vor der Islamisierung, sondern wegen der Untergangsrhetorik, des Ekels an der eigenen Kultur, des Fatalismus. Am Ende sieht der Erzähler in der Anpassung „die Chance auf ein zweites Leben, das nicht besonders viel mit dem vorherigen gemein haben würde“. Ist das realistisch oder einfach nur ekelhaft? Das muss wohl jeder Leser für sich entscheiden.

RÜCKZUG AUS PARIS

Michel Houellebecq hat sich aus der Stadt zurückgezogen, in der der 1956 auf Réunion Geborene seit 1973 lebt und in der er 1978 ein Studium als Landwirtschaftsingenieur abschloss. Laut Verlag ging der Autor aus Trauer um seinen Freund Bernard Maris, der beim Anschlag auf „Charlie Hebdo“ ermordet wurde. Wo er ist und wann er zurückkehrt, ist unbekannt. Seinen neuen Roman will er vorläufig nicht mehr bewerben.

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.01.2015)

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