Spiel mit Jahreszahlen: 2022 isst man Menschenfleisch

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Das entscheidende Jahr in Houellebecqs neuem Roman »Unterwerfung« ist der Science-Fiction wohlbekannt: über das Spiel mit Jahreszahlen, von 1984 bis 802.701.

Nur sieben Jahre sind wir von 2022 entfernt, dem Jahr, in dem in Michel Houellebecqs neuem Roman in Frankreich die Muslimbrüder an die Macht kommen. Figuren der jetzigen Politik spielen bei diesen Präsidentschaftswahlen mit, und allerorten wird „Soumission“ seit seinem Erscheinen am Tag der Anschläge auf „Charlie Hebdo“ als aktueller politischer und gesellschaftlicher Kommentar gelesen.

Aber der französische Romancier schreibt auch Science-Fiction, in „Die Möglichkeit einer Insel“ imaginierte er die Menschheit in 2000 Jahren. „Soumission“ kann man auch in der Tradition von „Election Year 2084“ sehen, einer in den 1970ern vom russisch-amerikanischen Schriftsteller Isaac Asimov herausgegebenen Anthologie über die „Politik der Zukunft“. Manche Geschichten darin sind immer noch reizvoll, wie Asimovs Erzählung „Franchise“ über Wahlen im Jahr 2008. Umfragen und Computeranalysen sind da schon so genau, dass nur eine einzige Person zur Wahlurne schreiten muss.

„Soylent Green“ und das Jahr 2022. Aber insgesamt bestätigt Asimovs Anthologie, dass Science-Fiction-Autoren in der Regel keine guten Polit-Prognostiker sind. Nicht einmal George Orwell war es, er ging beim Roman „1984“ von der Überzeugung aus, dass die britische Demokratie den gerade tobenden Weltkrieg nicht überleben werde und unausweichlich entweder faschistisch oder kommunistisch werden würde.

Schriftstellern wird gern ein „seismografisches“ Gespür für Veränderungen attestiert, zugleich sind sie viel eher im Bann der eigenen Befindlichkeit als Wissenschaftler. Und sie werden stärker als andere von fremder Fiktion mitgeprägt. Houellebecq, der scharfe Kapitalismuskritiker, hat vielleicht beim Jahr 2022 auch an einen Klassiker der Science-Fiction gedacht: den Film „Soylent Green“ mit Charlton Heston aus dem Jahr 1973. Er kam ein Jahr nach dem Bericht „Die Grenzen des Wachstums“ heraus und war einer der ersten dystopischen Öko-Thriller. Die Welt ist darin überbevölkert, die Menschen ernähren sich von künstlichen Lebensmitteln wie „Soylent Green“, das aber, wie sich herausstellt, aus Menschenfleisch gemacht wird.

Houellebecq, der Antikapitalist. Dem Autor von „Elementarteilchen“ dürfte der Film gefallen haben, mit seiner Kritik an den kapitalistischen Produktionsformen und der Verdinglichung des Menschen. Am Rand berührt das Thema sogar Houellebecqs Vision eines islamisierten Frankreich. Denn Europa befindet sich in „Soumission“ nicht zuletzt wegen des mörderischen Kapitalismus am Rand des Bürgerkriegs. Und der neue muslimische Präsident Ben Abbes setzt auf ein alternatives Wirtschaftsmodell, den „Distributionismus“: eine christliche Wirtschaftsphilosophie aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert, die sich als Gegenentwurf zu Kapitalismus und Sozialismus verstand, kleine Strukturen betonte und den Besitz auf möglichst viele zu verteilen suchte.

Ob 2000, 2012 oder 2022 – Jahreszahlen entwickeln in der Science-Fiction gern ein Eigenleben, werden zu „magischen Daten“, auf die immer wieder Bezug genommen wird, spätestens seit George Orwells Roman „1984“. Haruki Murakami nannte einen seiner Romane „1Q84“, ein Spiel mit der japanischen Aussprache der Ziffer neun; Anthony Burgess schrieb einen Roman „1985“, zahllos sind die Anspielungen in der Populärkultur. Aber in der Realität ist das Jahr 1984 lang vorbei, und deswegen ist nun das davon abgeleitete „2084“ beliebt.

2000 ist ebenfalls ein „alter Hut“, desgleichen 2001, das Jahr von Kubricks filmischer „Odyssee im Weltraum“. 2010 war in John Brunners dystopischem Roman „Stand on Zanzibar“ (1968) wichtig, es war der fatale „Point of no Return“ in der Menschheitsgeschichte, zu dem sieben Milliarden Menschen auf der Erde leben. (Brunner lag nur ganz knapp daneben, in der Realität war es 2011 so weit). Auch 2012 ist vergangen, wegen des angeblichen Endes des Maya-Kalenders ein so beliebter Horizont für Endzeitszenarien. Was kommt in der Science-Fiction also demnächst, außer die Herrschaft der Muslimbrüder in Frankreich?

Die schönste Zahl: 802.701. 2019 ist die Welt voller Replikanten, glaubt man Ridley Scotts Film „Blade Runner“. 2024, nach dem 4. Weltkrieg, jagen die Männer nach Nahrung, sauberem Wasser, Waffen und Frauen (in Harlan Ellisons „A Boy And His Dog“, 1969). 2026 gehen die von Robotern kontrollierten Häuser vollautomatisch wie Uhrwerke, selbst wenn deren Bewohner ausgezogen sind (in Ray Bradburys „There Will Come Soft Rain“, 1950). 2075 leben die Menschen auf dem Mond (in Robert A. Heinleins „The Moon Is a Harsh Mistress“, 1966). 2092 wütet eine Seuche im Westen, Amerikaner kommen, um Europa zu plündern (in Mary Shelleys „The Last Man“, 1826).

Die schönste Jahreszahl freilich ist 802.701, die erreiste Zukunft in H. G. Wells Roman „Die Zeitmaschine“ – schön deshalb, weil es die Welt immer noch gibt . . . Freilich, in der Science-Fiction kann die Distanz zwischen 2022 und 802.701 sehr klein sein. Denn die Autoren, ob sie nun Wells oder Houellebecq heißen, meinen in beiden Fällen die Gegenwart, wenn sie Zukunft sagen. Das ist ihre Schwäche und ihre Stärke zugleich.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.01.2015)

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