Die Faszination einer Toten

Hingerissen von einer mutmaßlichen Mörderin: der ungarische Autor Szilárd Rubin.
Hingerissen von einer mutmaßlichen Mörderin: der ungarische Autor Szilárd Rubin.Rowohlt-Verlag
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Es ist ein unerhörter Tatsachenroman, den Szilárd Rubin mit "Der Eisengel" geschrieben hat. Fesselnd, verstörend, menschlich, abgründig. Ein literarisches Suchtmittel jedenfalls.

Ungarn, erste Hälfte der 1950er-Jahre. Eine junge Frau stürzt nachts in eine Polizeistation. Sie will Anzeige erstatten. Nachvollziehbar, wäre sie doch um ein Haar ermordet worden, erwürgt mit einer Drahtschlinge. So wirklich für voll wollen (dürfen?) die Beamten die Frau nicht nehmen. Schließlich machen sie sich aber doch zum Tatort auf. Und machen dort eine grausige Entdeckung: In einem alten Brunnenschacht liegen die nackten Leichen von fünf Mädchen. Jenen fünf Mädchen offensichtlich, die im Verlauf weniger Monate eines nach dem anderen in und um Törökszentmiklós spurlos verschwunden waren und deren Verbleib die Polizei bisher nicht hatte aufklären können (dürfen?).

Ungarn, erste Hälfte der 1950er-Jahre. Eine junge Frau wird zum Galgen geführt. Sie gibt sich nicht nur gefasst, Zeugen der Hinrichtung wollen sie sogar teuflisch lachen gehört haben. Doch instinktiv klammert sie sich an ihre beiden Bewacher, als ob sie so verhindern könnte, dass diese sie dem Scharfrichter übergeben. Ihr letzter Wunsch war es gewesen, ihren über alles geliebten Sohn noch einmal zu sehen, der in ein Heim gegeben wurde. Der Wunsch blieb unerfüllt, obwohl die Gefängnisleitung sich in einem Anfall von Menschlichkeit spät, aber doch bemüht haben soll. Elf Minuten hat ihr Herz noch geschlagen. Angeblich ist das durchschnittlich lang. Beim Vollzug der Todesstrafe von Piroska Jancsó am 12.Dezember 1954 sind Kosten in Höhe von 226,50 Forint entstanden, erfahren wir aus den Akten.

Was die beiden Szenen miteinander zu tun haben? Piroska Jancsó wurde für die Ermordung der fünf Mädchen hingerichtet. Hat sie die Taten begangen? Oder, präziser gefragt: Was war ihr Anteil daran? Szilárd Rubin, der 2010 verstorbene Autor von „Der Eisengel“, hat Jahrzehnte damit verbracht, das herauszufinden. Es war ein Lebensprojekt, dessen Erscheinen er nicht mehr erlebt hat, dessen Fragmente erst zusammengefügt werden mussten.

Dieses unerhörte und unerhört fesselnde Buch erzählt zwei Geschichten: Auf der ersten Ebene die des Mordes an fünf Mädchen, verwoben mit der Geschichte von Piroska Jancsó, die aus ärmlichsten Verhältnissen stammte, aus Verhältnissen, in denen das Tier, das man am besten kennt, der Floh ist.

Rubin erzählt allerdings keine vulgärpsychologische „Sie hatte halt eine schwere Kindheit“-Geschichte. Es ist viel abgründiger: Er ist fasziniert von dieser Schönen, fasziniert von dieser Frau. Und das ist die zweite Geschichte, die dieses Buch schildert.

Patchwork als Einheit. Doch spricht in diesem Ich-Erzähler tatsächlich immer der Autor zu uns? Und selbst wenn, machte er nicht in den Jahrzehnten der Recherche und Arbeit eine Wandlung durch? Es gibt Passagen von beängstigendem Hingezogensein zu einer Person, die an schrecklichsten Verbrechen zumindest beteiligt war. Andernorts regiert wieder kahle Nüchternheit. Aber gerade diese Dissonanzen erzeugen eine Art höherer Einheit. Welches Leben wäre schon widerspruchsfrei? Und so wirkt dieses Patchwork-Buch überraschend geschlossen (was sicher auch der behutsamen Arbeit der Herausgeber und dem formidablen Sprachgefühl der Übersetzerin Timea Tankó zu verdanken ist).

Wäre nicht dieser magnetische Sog Piroskas auf Szilárd Rubin gewesen, er hätte wohl nie mit dieser an das Selbstzerstörerische grenzenden Hartnäckigkeit einen Fall aufgebohrt, mit der vielleicht wichtigsten journalistischen (und kriminalistischen) Tugend: dem Zweifel. Es gibt für alles eine einfache Erklärung, nur ist das meistens die falsche. Davon sind Rubin und der ihn mit Unschärfe überlagernde Ich-Erzähler überzeugt. Also graben sie. Und graben weiter. Zu einer wasserdichten Lösung kommen sie naturgemäß nicht, zu einer indiziengesättigten These mit reichlich Plausibilität sehr wohl.

Mit dem Wissen, das man nach 220 Seiten angesammelt hat, empfiehlt es sich dringend, noch einmal die Einleitung zu lesen. Es kann allerdings passieren, dass man es dabei nicht bewenden lässt.

Neu Erschienen

Szilárd Rubin:
„Der Eisengel“
übersetzt von

Timea Tankó
Rowohlt
224 Seiten
20,60 Euro

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.02.2015)

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