Osteuropäische Tragödie, neuer Akt

(c) REUTERS (GLEB GARANICH)
  • Drucken

Andreas Kappelers "Kleine Geschichte der Ukraine": aktualisiert und überarbeitet.

Vor 20 Jahren erschien die „Kleine Geschichte der Ukraine“ von Andreas Kappeler das erste Mal. Damals, 1994, drei Jahre nach der wiedergewonnenen Unabhängigkeit des Landes, war das für viele eine Einführung in die Geschichte eines exotischen Landes. Inzwischen hat der frühere Ordinarius für Osteuropäische Geschichte an der Uni Wien die „Kleine Geschichte“ zum vierten Mal überarbeitet und aktualisiert – bis herauf ins tragische Kriegsgeschehen des vergangenen Sommers im Donbass.

In Deutschland wird unter den Osteuropahistorikern die ständige Vernachlässigung der Ukraine in der Forschung inzwischen selbstkritisch beklagt und heftig diskutiert. Kappeler aber braucht sich da nichts vorwerfen. Er hat die strategische Bedeutung dieses Landes und seine heiklen und potenziell explosiven Verbindungen gerade zu Russland immer klar erkannt. Dieses Thema durchzieht seine gesamte Studie.

Dabei zeigt sich die Größe des Schweizer Historikers immer wieder durch sein präzises und stets um Sachlichkeit und Ausgewogenheit bemühtes Urteil. Mit Stereotypen – individualistische, spontane, poetische, naturliebende Ukrainer gegenüber kollektivistischen, materialistischen, sozial disziplinierten Russen – kann er nicht viel anfangen. Kappeler geht es immer um Fakten.

Seit dem 19. Jahrhundert gilt in diversen russischen Machtzentralen die Losung, die Ukraine ja nicht ziehen zu lassen. Die ganze herablassende Haltung von Russen gegenüber den „Kleinrussen“ zeigte sich in der 2008 gemachten Bemerkung Wladimir Putins, die Ukraine sei „kein vollwertiger Staat“ (so manche geschichtsunkundigen Europäer nickten sogleich zustimmend).

Die größte Tragik des jetzigen Geschehens sieht Kappeler darin, dass durch das bewusste Anstiften und das militärische Eingreifen Russlands „das zwar nicht konfliktfreie, aber doch friedliche Zusammenleben von Russen und Ukrainern gefährdet wurde“. Möglicherweise urteilt der Professor da sogar zu milde. b.b.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.03.2015)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.