Terry Pratchett: "Mein Zorn hätte Eisen biegen können"

Terry Pratchett
Terry Pratchett(c) AP (Ian Nicholson)
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55 Millionen Leser hat er für die utopische "Scheibenwelt" begeistert. Zum Jahreswechsel wurde er geadelt. Jetzt kämpft der britische Autor mit der Realität - und mit Alzheimer. Sehr öffentlich und sehr wütend.

Es ist eine bittere Ironie des Schicksals. Mit seinen Werken hat der britische Schriftsteller Terry Pratchett Millionen begeisterter Leser durch die utopische „Discworld“ geführt. Nun kämpft er selbst mit der Realitä: Er findet seine Autoschlüssel nicht, die direkt vor ihm auf dem Tisch liegen. Eine Krawatte zu binden oder in einen Pullover zu schlüpfen, stellt ihn vor fast unlösbare Probleme. Er starrt auf eine vor ihm stehende Teetasse, die er nicht wahrzunehmen scheint, und fragt seinen Gesprächspartner: „Habe ich meinen Tee getrunken?“

Pratchett, der am 28. April 61 Jahre alt wird, leidet an einer Frühform von Alzheimer. Posteriore kortikale Athropie; eine Beeinträchtigung der visuellen Wahrnehmung und deren Umsetzung im Gehirn; festgestellt im Dezember 2007. „Zuerst bemerkte ich es beim Tippen, dann fand ich im Auto das Gurtenschloss nicht mehr. Es zeigte sich an den kleinen Dingen.“

Sein Sprechen ist bisher völlig unbeeinträchtigt, doch Schreiben wird schwieriger. Seine Handschrift wird zunehmend unleserlich, sogar für ihn selbst. Namen von Gesprächspartnern kann er kaum mehr behalten. Eines der ersten öffentlichen Zeichen seiner Erkrankung war, dass er eine Lesung abbrechen musste. Damals glaubte man noch, er sei erschöpft.

„Völlig allein auf der Welt.“ Pratchett unterzog sich langwierigen Untersuchungen, bis Spezialisten Alzheimer diagnostizierten. Als der Befund feststand, „war ich so wütend, dass Adam bei der Vertreibung aus dem Paradies vergleichsweise nur ein wenig verstimmt gewesen sein dürfte. Mein Zorn hätte Eisen biegen können.“ Doch obwohl er sich in den ersten Augenblicken „völlig allein auf der Welt“ gefühlt und ständig die Frage „Warum ich?“ gestellt hatte, sagte er wenig später der Krankheit den Kampf an.

Pratchett tut das öffentlich. „Ich glaube an die alte Volksweisheit, dass man erst den Dämon beim Namen nennen muss, ehe man ihn zur Strecke bringen kann“, sagt er. Für die BBC hat er ein Jahr an einer aufsehenerregenden Dokumentation über sein Leben mit Alzheimer gearbeitet. Sie hat das Bewusstsein von Millionen Briten bezüglich der Krankheit verändert.

Obwohl Alzheimer in Großbritannien nach Einschätzung von Experten auf dem Weg zur Epidemie ist, hat erst Pratchetts Kreuzzug vielen die Augen geöffnet. 700.000 Briten leiden heute an Alzheimer; bis 2025 werden es wegen der steigenden Lebenserwartung eine Million sein; nur zehn Jahre später sogar zwei Millionen, wie eine Studie der Alzheimer Society zeigt. „Schon heute gibt es kaum eine Familie, die nicht betroffen ist,“ heißt es in der Untersuchung.

Stigma Alzheimer. Nach guter britischer Art wurde darüber bisher kaum bis gar nicht gesprochen, schon gar nicht öffentlich. Alzheimerpatienten werden weitgehend „stigmatisiert“, sagt Studienautor Neil Hunt. Pratchett formuliert es etwas deutlicher: „Wenn jemand Krebs hat, ist er ein Kämpfer. Wenn einer Alzheimer hat, ist er ein alter Furzer.“

Das Schlimmste an Alzheimer ist der graduelle Verlust der eigenen Fähigkeiten bei vollem Bewusstsein. Auf einmal funktioniert nicht mehr, was immer selbstverständlich war. Man muss sich selbst bei seinem Verfall zusehen. Vergessen (Demenz) ist nur eine von vielen Varianten der Krankheit. „There's someone in my head but it's not me“, singen Pink Floyd in „The Dark Side of the Moon“. Für die Entstehung von Alzheimer gibt es bis heute keine schlüssige Erklärung und wirksame Behandlung. Die Krankheit kann jeden treffen. Pratchett: „Wir sitzen alle im selben Boot. Aber meines leckt.“

In seinem zweiteiligen Film begibt sich der Autor auch auf die Suche nach möglichen – und unmöglichen – Therapien. Weil er sehr reich ist, steht ihm offen, was für normale Patienten unerschwinglich ist. Für das umstrittene Medikament Aricept zahlt er 1000 Pfund, von einem britischen Arzt lässt er sich einen Helm einreden, durch den das Gehirn täglich zehn Minuten mit Infrarotstrahlen beschossen wird, wodurch das Sterben von Gehirnzellen verhindert werden soll. „Es hat bisher zumindest nicht geschadet“, meint Pratchett.

Auf seiner Suche besucht er auch die USA, wo Alzheimer ein noch größeres Problem als in Großbritannien ist, wo aber auch ein Vielfaches in Forschung und Therapie investiert wird. Rebecca Wood, Chefin des britischen Alzheimer's Research Trust: „Die Krankheit kostet uns jährlich 17 Milliarden Pfund. Gleichwohl wenden wir im Jahr umgelegt auf die Bevölkerung gerade 14 Penny pro Person auf, während es in den USA 1,03 Pfund sind.“ Pratchett spendete im Vorjahr eine Million Dollar zur Bekämpfung der Krankheit, wissend dass „eine erfolgreiche Therapie für mich wohl nicht mehr erreichbar sein wird.“

Seine Initiative hat in der britischen Öffentlichkeit breite Resonanz gefunden. Hunderttausende Pfund wurden seither zusätzlich gespendet. Für ihren Erstlingsroman „The Wilderness“ über einen an Alzheimer erkrankten Mann, der mit 60 langsam seine Identität verliert, wurde Samantha Harvey gerade für einen der renommiertesten Literaturpreise des Landes nominiert.

Pratchett ist nicht der erste prominente Alzheimerpatient, der Schriftstellerin Iris Murdoch wurde etwa in dem Film „Iris“ ein bewegendes Denkmal ihres Kampfs mit der Krankheit gesetzt. Doch keiner hat bisher in Großbritannien so viel Rezeption erfahren wie er. „Ich habe das Privileg, dass man mir zuhört“, sagt Pratchett.

Blick ins eigene Gehirn. Das mag auch daran liegen, dass sein beißender Humor im Kampf gegen die Krankheit höchstens noch schärfer geworden ist. Als ihm in einem kalifornischen Labor das riesige Modell eines menschlichen Gehirns auf einem Supercomputer vorgeführt wird, bemerkt er: „Früher konnte man sein eigenes Gehirn nur sehen, wenn man der Spanischen Inquisition an einem wirklich schlechten Tag vorgeführt wurde.“

Dass er gegen die Krankheit verlieren wird, davon lässt sich Pratchett jedenfalls nicht aufhalten. Sein öffentliches Engagement habe ihn „mindestens ein halbes Buch gekostet“, sagt der Vielschreiber. Dieser Tage beendet er sein neuestes, es wird sein 48. sein. Mehr als 55 Millionen Leser hat er auf der ganzen Welt, in 35 Sprachen ist sein Werk übersetzt worden. Der ehemalige Journalist und Pressesprecher eines Atomkraftwerks veröffentlichte sein erstes Buch mit 20.

Mit der Erfindung der Discworld (Scheibenwelt) gelang ihm der Durchbruch. Erstmals beschrieben 1983 in „The Colour of Magic“, handelt es sich um eine utopische Welt auf einer flachen Erdscheibe, die von vier gigantischen Elefanten getragen wird, die wiederum auf dem Rücken einer riesigen Schildkröte stehen. Bewohnt wird sie von allzu menschlichen Fantasiegestalten. Seine Fans aus aller Welt kommen alle zwei Jahre zu einer „Discworld Convention“ zusammen. Pratchett war einer der ersten, der seine Fangemeinde auch per Internet ansprach und bis heute regelmäßig mit ihr auf diesem Weg kommuniziert. Nach den Harry-Potter-Romanen sind Pratchetts Bücher die meistverkauften Großbritanniens.

Von der Queen geadelt. In seiner erfundenen Welt setzt sich Pratchett mit der „wirklichen“ Welt auseinander. Als Science-Fiction-Autor wollte er sich dennoch nie eingeordnet sehen: „Kaum taucht in deinem Buch ein Drache auf, bist du schon abgestempelt.“ Überhaupt hatte er mit der Kritik zu ringen, literarische Anerkennung erhielt er lange kaum. Er tröstete sich öffentlich: „Mir sind Leserzahlen sowieso wichtiger als Kritiken.“ Als er 1998 aber einen Orden für Verdienste um die britische Literatur erhielt, entschlüpfte ihm doch ein Eingeständnis der Kränkung: „Ich vermute, mein Verdienst besteht darin, dass ich keine Literatur geschrieben habe.“ Als er heuer zum Jahreswechsel dann von der Queen sogar zum Sir geadelt wurde, spottete er: „Ich hoffe, es ist nicht nur wegen meiner Krankheit.“

So abgründig Pratchetts Humor in seinen Büchern ist, so vordergründig bleibt er im Kampf mit Alzheimer. „Was ich nicht möchte, ist, eine Last zu werden. Wenn es soweit ist, dass man nichts mehr für mich tun kann, wird meine Familie einige sehr schwere Entscheidungen treffen müssen.“ Das ist die todernste Seite, und es wird die letzte sein in Leben und Werk des Terry Pratchett.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.04.2009)

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