Tücken alter Liebe: Lektüre nach Jahren

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Wenn wir einen Roman noch einmal zur Hand nehmen, dann meist, weil wir von ihm früher begeistert waren. Oft entdecken wir nun neue Facetten, zuweilen ist uns die ursprüngliche Begeisterung aber auch unangenehm. Warum? Einige Erfahrungen.

Es ist eine Geschichte, die liebenden Lesern immer wieder passiert: Am Anfang herrscht Begeisterung über die Begegnung, das Werk wird erst aus der Hand gelegt, nachdem es in einem Zug ausgelesen worden ist. Schon wartet man aufs nächste Buch, wird rasch zum Fan, von Kafka, Mann, Stifter. Die Autoren begleiten uns durch die Jahre, und jede Wiederbegegnung bringt neue Entdeckungen. Manchmal aber, selbst weit vor dem verflixten siebten Jahr, erkaltet die Beziehung, die Frage lässt sich nicht mehr vermeiden: Was habe ich an dem oder der einst gefunden? Wird nun auch der erste Roman retrospektiv eine Enttäuschung sein?

Romane in Zeiten der Paranoia: Thomas Pynchon vs. Paul Auster

Eine langsame Entfremdung: Seit einigen Jahren hat mein Interesse am Werk eines hochgelobten US-Autors kontinuierlich abgenommen. Zu Beginn der Krise blätterte ich noch pflichtschuldig in seinen Romanen, kaum einen habe ich dann tatsächlich fertig gelesen. Am Ende ersetzten Rezensionen die Lektüre. Immer öfter auch vernichtende.

Meine Begeisterung für Paul Auster wurde 1988 geweckt, durch die „New York Trilogy“. Ein Neubeginn für den US-Roman, so der „Observer“. Austers Stärke sei, Geschichten wie Perlen aneinanderzureihen, stand im „Independent“. Bedeutung aber sei aus ihnen nicht so leicht herauszubekommen. Ich hätte gewarnt sein können.

Noch einmal lese ich also „City of Glass“ (1985), Teil 1 der Trilogie, diese Schnitzeljagd durch New York. Fragmente eines Krimis: Ein Autor namens Daniel Quinn wird für den Detektiv Paul Auster gehalten. Die Grenzen zwischen Realität und Traum zerfließen. Vielleicht war es meine Nostalgie für diese Metropole, die mich damals faszinierte. Die Raffinesse überraschender Perspektivenwechsel zeigt sich zwar auch bei erneuter Lektüre, aber die starke Faszination von einst bleibt für diesen Spätgeborenen der Postmoderne aus. Er liest sich 30 Jahre später wie eine manieristische Kopfgeburt, als Endzeit in der Endzeit. Der Grundton dieses Romans ist Paranoia.

Verfolgungswahn hat ein anderer Amerikaner weit vor Auster meisterhaft beschrieben. Wie hielt sich Thomas Pynchons Romandebüt? „V“ (1963) beginnt ebenfalls in New York, in den Fünfzigern, führt im Irrsinn durch die moderne Welt, mit eindrücklichen Bildern, starken Charakteren, gewitztem Erzählen. Ein Klassiker. Das wiederholte Lesen bewirkt Nostalgie und sogar neue Erkenntnis. Man könnte auch sagen: Reife.

»Tristan« gegen »Tristan« – und den Putzfanatiker Thomas Mann

„Gott, du nervst!“, dachte ich mit Mitte 20 beim Wiederlesen der Erzählungen „Tristan“ und „Tonio Kröger“. Du, Thomas Mann, von dem ich in der Oberstufe so besessen war, dass ich sogar das Geburtsjahr 100 Jahre vor mir für ein Zeichen hielt (und auch noch dasselbe Sternzeichen!). Jetzt sah ich ihn vor mir, einen steifen Mann mit Spazierstock oder Pädagogenstab, der Kunst und Leben scheidet wie Moses das Meer: hier blond und blauäugig, dort braunäugig und schwindsüchtig. Mächtig wie Moses? Mächtig geziert. Und die aufdringlich sprechenden Namen, Tonio Kröger, Klöterjahn, Detlev Spinell! „Für wie begriffsstutzig hält Mann die Leser?“, ärgerte ich mich. Muss am Ende von „Tristan“ der Künstler vor dem Triumphgeheul des pausbäckigen kleinen Anton davonlaufen? Wenn schon Weltschmerz, dann Kleist und Kafka – statt eines Pedanten, der mit seiner Unordnung und seinem frühen oder späten Leid umging wie im Putzwahn; nur dass sein Putzzeug ziselierte Sätze sind.

Heute weiß ich, dass mein zeitweiliger Widerwille ein (unvollständiger, weil die Romane verschonender) Vatermord war: Thomas Mann musste vom zu hohen Sockel runter, zumal ich mich nicht mehr als Tony Kröger fühlte. Und ich merke: Ich kann sein unglaubliches sprachliches Feingefühl wieder genießen, wenn etwa der bastblonde Hans Hansen mit dem träumerischen Toni über die Wälle geht und mir Sätze auf der Zunge zerfließen, die ich schon abgenagt glaubte – sogar der: „Damals lebte sein Herz; Sehnsucht war darin und schwermütiger Neid und ein klein wenig Verachtung und eine ganze keusche Seligkeit.“ Das ist perfekte, mich wieder berührende Musik; der „Tristan“ aber muss nicht mehr sein. Nur der Gottfried von Straßburgs, bei dem jedes Wiederlesen zeigt: Mit ihm kann man ein Leben verbringen. Von Anne-Catherine Simon

»The Great Gatsby« schlägt die gesamte deutsche Popliteratur

Warum ich vor gut 20 Jahren F. Scott Fitzgeralds „The Great Gatsby“ gekauft habe, weiß ich nicht mehr. Verstanden habe ich dieses große Sittenstück über den als Schnapsschmuggler zu immensem Reichtum gekommenen Jay Gatsby und seine fatale Liebe zu Daisy Buchanan als Teenager nicht. Ich las und vergaß rasch. Länger in Erinnerung blieben mir einige zauberhafte Kurzgeschichten Fitzgeralds, allen voran „Bernice Bobs Her Hair“ und „The Diamond as Big as the Ritz“.

Im Sommer 2007 holte mich der „Gatsby“ wieder ein. Da brachte die New Yorker Theaterkompanie Elevator Repair Service ihr Stück „Gatz“ bei den Wiener Festwochen zur Aufführung: siebeneinhalb fesselnde Stunden Damals nahm ich mein altes Penguin-Taschenbuch ins Museumsquartier mit, auf dass mir die Handlung nicht entgleite. Alles ergab nun Sinn. Der „Gatsby“ ist ein amerikanischer Urtext wie Steinbecks „The Grapes of Wrath“, Jack Kerouacs „On the Road“ oder Arthur Millers „Death of a Salesman“, Schlüssel zum Verständnis dieser noch immer jungen und rätselhaften Nation, Spiegel für die eigene Seele mit all ihrem Ehrgeiz, ihrem Begehren, ihrer Angst davor, als Hochstapler demaskiert zu werden. Ich kenne keinen besseren Schlusssatz als jenen, mit dem Nick Carraway seine Erzählung beendet: „So we beat on, boats against the current, borne back ceaselessly into the past.“

Zwischen diesen beiden Begegnungen mit dem „Gatsby“ verfiel ich um die Jahrtausendwende der deutschen Popliteratur. Ich verschlang Benjamin von Stuckrad-Barres „Soloalbum und Tristesse Royale“, die Plauderei eines Quintetts schlauer Schnösel. Für jede Peinlichkeit in Politik und Unterhaltungswelt hatten von Stuckrad-Barre, Christian Kracht und ihre Mitstreiter einen frechen Spruch. Es dauerte, bis mir die Fadenscheinigkeit dieser Masche auffiel. Die Popliteratur war ein hübsch verpackter Strauß an Posen, mit denen die Verlagsindustrie ein paar Jahre lang gut verdiente. Vielleicht scheidet sich gute Literatur dadurch von der schlechten, dass sich ihre Klasse umso klarer zeigt, je mehr man gelesen hat. Von Oliver Grimm

Klassik gegen Postmoderne: Jean Paul kontra Thomas Bernhard

Unter Studierenden der Germanistik gehörte es einst zum guten Ton, Neuerscheinungen angesehener Autoren österreichischer Provenienz unverzüglich zu lesen. Als 1985 Thomas Bernhards Roman „Alte Meister“ erschien, war er deshalb Pflichtlektüre. Das Pflichtgefühl wich rasch einem ungeheuren Vergnügen. Wie Reger, der Protagonist des Buches, mit dem staatlichen Kunstbetrieb und dem österreichischen Wesen abrechnet, erzeugte Schauer des Wohlbehagens. Da war von Dichtern die Rede, die „vor jedem debilen Stadtrat und vor jedem stumpfsinnigen Gemeindevorstand und vor jedem germanistischen Maulaffen“ Bücklinge machen. Wenn man jung und rebellisch ist, liest man so etwas gern. Inzwischen sind 30 Jahre ins Land gezogen, Thomas Bernhard ist fast schon Staatskünstler, seine „Kunstvernichtungskunst“ (©Schmidt-Dengler) ist nur noch große Geste. Dementsprechend die Enttäuschung bei der Wiederlektüre.

Wie anders dagegen „Die unsichtbare Loge“ von Jean Paul, die mir ein Freund damals empfahl. Damit konnte ich nichts anfangen, schon die eigenwillige, gewöhnungsbedürftige Sprache! Als ich die „Lebensbeschreibung“ aus Anlass des 250. Geburtstags des Klassikers 2013 wieder zur Hand nahm, eröffnete sich mir eine Welt, fast wie dem Protagonisten Gustav, der nach achtjähriger Erziehung „unter der Erdrinde“ zum ersten Mal das Sonnenlicht sieht. „Der entflohenen Nacht loderte der nachschleifende Saum ihres Mantels weg, und auf dem Rand der Erde lag, wie eine vom göttlichen Throne niedergesunkene Krone Gottes, die Sonne.“ So ändert sich die Perspektive. Von Harald Klauhs

Thomas Mann, Doderer und zwei blutige Waden

Nicht nur die Zeit verändert den Blick auf Bücher, auch der Kontext, in denen man ihnen erneut begegnet: Zufällig hatte ich die „Buddenbrooks“ und die „Merowinger“ gleichzeitig in den Koffer gepackt – und las sie knapp hintereinander. Da fiel mir erst auf, wie Doderer hier seinen Thomas Mann karikiert. Zweifel? Wem der Untertitel („Eine totale Familie“) und die skurril-ausführlichen Beschreibungen nicht reichen, der vergleiche zwei Passagen: In beiden ist ein Bub in Bedrängnis. Bei Thomas Mann wird Hanno unter Wasser getunkt, worauf sein Retter heranschwimmt und den Angreifern ins Bein beißt „wie ein kleiner wütender Hund“. Bei Doderer ist es ein Mädchen, das dem von Schnippedilderich Drangsalierten zu Hilfe eilt: Sie beißt dem Bösewicht ebenfalls in die Wade. Zwei Bisse ins Bein, zweimal fließt das Blut. Was für eine hübsche Entdeckung!

Und was für eine Enttäuschung im gleichen Urlaub: Pitigrilli. Wie habe ich ihn bewundert, den Verfasser von „Kokain“: Dieser Witz! Dieser Esprit! Heute aber muss ich mich fragen, warum mich diese simplen Pointen auf Kosten anderer erheitern konnten. Ein Autor, dessen Humor die Jahrzehnte überdauert: Edgar Hilsenrath mit „Der Nazi & der Friseur“. Von Bettina Steiner

Zweig, der über Mahler schreibt? Dann lieber Adalbert Stifter

Was Stefan Zweig einst über Gustav Mahler, den Dirigenten und Operndirektor notierte, wollte ich jüngst nachblättern – und war dann recht enttäuscht: Die Begeisterung des jugendlichen Stehplatzbesuchers schwingt in den Sprachbildern, die aber wenig darüber sagen, was einen Musikfreund an Mahlers Kunst so bewegt haben könnte.

Darf ich dem Adalbert Stifter entgegenhalten? Du lieber Himmel, schallt es mir bei solchen Gelegenheiten regelmäßig entgegen, das Weitschweifigste vom Weitschweifigen. Doch selbst im Dickicht des „Witiko“ habe ich jedes einzelne Dacapo anlässlich des großen Rats auf dem Hradschin geliebt: Simple Wiederholung suggeriert das Schicksalsschwangere des historischen Augenblicks. Dafür träumt sich Stifter in seinem „Gang durch die Katakomben“ mir nichts, dir nichts hoch hinaus, um in einem gigantischen Ikarus-Sturz von „tausend Milchstraßen weiter außer dem Sirius“ jäh wieder drei Spannen unter dem Stephansplatz zu landen, während ein Wagen übers Pflaster rollt – vielleicht eine der gewaltigsten Konfrontationen von Unendlichkeit und Vergänglichkeit, die je in Worten gemalt wurden. In Prosa zumindest...Wilhelm Sinkovicz

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.06.2015)

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