Harper Lee: Der liebenswerte Vater war doch Rassist

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Das kommerzielle Brimborium um Harper Lees „verschollenen“ Roman „Go Set a Watchman“ ist ärgerlich. Doch das Buch ist gut – und es stellt amerikanische Gewissheiten über das „Rassenverhältnis“ zum richtigen Zeitpunkt infrage.

Sie haben uns unseren Atticus gestohlen! So schallt es dieser Tage landauf, landab durch die Vereinigten Staaten oder zumindest durch jenen Teil der amerikanischen Gesellschaft, der Bücher liest und seinen moralischen Kompass irgendwann einmal nach dem Pol des Atticus Finch aus dem 1960 erschienenen Roman „To Kill a Mockingbird“ ausgerichtet hat.

Die damals 34-jährige Harper Lee hatte mit diesem Atticus Finch eine umwerfende literarische Gestalt geschaffen: einen allein erziehenden Vater zweier kleiner Kinder, der im allertiefsten Süden der Südstaaten, im fiktiven Hühnernest Maycomb, Alabama, als Rechtsanwalt die Verteidigung eines schwarzen Mannes übernommen hatte, dem die Vergewaltigung einer weißen Frau vorgeworfen worden war. Südlich der Mason-Dixon-Linie, die den Norden vom Süden der USA noch heute kulturell trennt, kosteten damals und bis in die 1960er-Jahre schon kleinere Verstöße gegen die rassistische Überlegenheitsmanie der führenden weißen Klasse schwarze Männer das Leben: der 14-jährige Emmett Till hatte 1955 in Mississippi angeblich mit einer weißen Verkäuferin geflirtet: Tage später fand man seinen Leichnam, so scheußlich verstümmelt, dass Damen bei der Beerdigung vor dem offenen Sarg in Ohnmacht fielen.

Atticus Finch jedoch, den edlen Anwalt und frommen Methodisten aus Lees modernem Klassiker „To Kill a Mockingbird“, ließ die Verachtung seiner weißen Gemeindemitglieder, ließ auch die Beschimpfung als „Niggerlover“ ungerührt. „Ich tue mein Bestes, jeden zu lieben.“

Vom „Niggerlover“ zum Segregationisten

Und nun das: Im diese Woche veröffentlichen Roman „Go Set a Watchman“ stellt sich Atticus Finch als überzeugter Anhänger der „Rassentrennung“ dar, der auch einmal bei einem Treffen des Ku-Klux-Klans dabei gewesen ist und seiner aus New York angereisten 26-jährigen Tochter Jean Louise die idealistischen Flausen über die „Rassengleichheit“ mit Sätzen wie diesem zu vertreiben versucht: „Die Neger hier unten bei uns sind als Menschen noch immer in ihrer Kindheit.“

Man muss einigen Aufwand betreiben, um Ordnung in die Zeitenfolge dieser beiden Romane zu bringen. Die Handlung von „Go Set a Watchman“ spielt zwar rund 20 Jahre nach jener von „To Kill a Mockingbird“. Doch entstanden sind die beiden Texte in der umgekehrten Reihenfolge. Harper Lee, nach dem Jusstudium in Alabama der provinziellen Enge im heimischen Monroeville entflohen und in Manhattan gelandet, hatte auf Empfehlung ihres Freundes, des Schriftstellers Truman Capote, ein Romanmanuskript namens „Go Set a Watchman“ bei einem New Yorker Verlag eingereicht. Dessen Handlung von einer jungen Frau, die aus New York nach Alabama zurückkehrt und dort entdeckt, dass ihr vergötterter, liebenswürdiger Vater auch ein übler Rassist ist, war recht autobiografisch. Harper Lees Vater, Amasa Coleman Lee, hatte zwar im Jahr 1919 als junger Rechtsanwalt zwei schwarze Bankräuber vor Gericht verteidigt (er verlor, sie wurden gehenkt). Weltanschaulich war er aber ein typischer Vertreter der alten Südstaatengesellschaft, sagte der Lee-Biograf Charles J. Shields zum „Wall Street Journal“. „Bis in seine mittleren Jahre stimmte er dem Status quo zu: Weiße Leute sollten bei weißen Leuten bleiben, schwarze Leute bei schwarzen.“ Vater Lee lehnte das Urteil des Obersten Gerichtshofs in der Sache „Brown vs. Board of Education“ aus dem Jahr 1954 zur Beendigung der „Rassentrennung“ in den Schulen erbittert ab. „Er war ein netter Mann“, sagte der Anwalt John B. Barnett III., der Lee als Bub kennenlernte. „Ich schätze, dass in den Fifties eine Menge anständiger Leute Segregationisten waren.“

Doch Lee änderte seine Haltung in der „Rassenfrage“. Knapp vor seinem Tod sagte er, während seine Tochter Harper mit einem Reporter über deren Anliegen sprach, die Wahlbezirke so zu gestalten, dass schwarze Wähler an den Urnen nicht mehr benachteiligt werden: „Das muss gemacht werden.“

Vor diesem Hintergrund schrieb Harper Lee in den 1950er-Jahren „Go Set a Watchman“. Und sie beherzigte den Rat ihres Verlags, das Buch zu überarbeiten, um es konsistenter zu machen. 1960 kam „To Kill a Mockingbird“ heraus, mit dem aufgeschlossenen, edlen Atticus Finch. „Go Set a Watchman“ blieb seither in einem Bankschließfach versperrt. Seit Jahren lebt die 1926 geborene Junggesellin halb blind und taub in einem Pflegeheim. Ihrer Anwältin und ihrem Agenten scheint es gelungen zu sein, sie umzustimmen. Für den Verlag Harper Collins ein Glückstreffer: Seit den „Harry Potter“-Büchern ist kein Roman so stark nachgefragt worden. Der Verlag, der ebenso zu Rupert Murdochs Medienkonzern New Corporation gehört wie das „Wall Street Journal“, zieht alle Register der Vermarktung und öffentlichen Meinungsbildung. So durfte Lees Anwältin im „Journal“ die Kritik an der Veröffentlichung unhinterfragt verteidigen.

Gegengift zu Geschichtskitsch

Abseits dieser Ärgerlichkeit ist es jedoch erfreulich, dass dieser Text das Licht der Welt erblickt. Es ist ein feiner Roman, von der Sprachkunst, Beobachtungsgabe und subtilen Ironie Lees getragen (so beschreibt sie zum Beispiel Maycomb: „Wenige Leute bedienten sich der Straßen, und wieso sollten sie auch? Wenn man nicht viel vom Leben wollte, gab es hier eine Menge davon.“)
Vor allem aber zwingt dieses Buch die Amerikaner, manche Gewissheiten über den vermeintlich unaufhaltsamen Fortschritt im Verhältnis der Schwarzen und Weißen zu hinterfragen. Noch immer werden Schwarze, so wie jüngst in einem Gotteshaus in Charleston, von weißen Rassisten ermordet. Noch immer sind schwarze Kinder systematisch ärmer und kränker als weiße. Noch immer landen Schwarze viel öfter und für längere Zeit im Gefängnis als Weiße, obwohl die Verbrechensraten circa gleich hoch sind. Atticus Finch hätte heute noch viel zu tun.

Auf einen Blick

Die 31-jährige Juristin Harper Lee reichte 1957 ihr erstes Romanmanuskript „Go Set a Watchman“ bei einem New Yorker Verlag ein. Der Text sei gut, aber ein wenig inkohärent, eine Überarbeitung täte ihm gut, lautet dessen Rat. Lee schrieb das Buch bis 1960 fast komplett um; als „To Kill a Mockingbird“ wurde es ein über 40 Millionen Mal verkaufter Welterfolg. Heute lebt Lee, schwer krank und knapp 90, in einem Pflegeheim. Ob sie „Go Set a Watchman“ nun wirklich veröffentlicht sehen wollte, ist offen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.07.2015)

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