Wittgenstein und der Löwe: Relative Realität am Wechsel

In Kirchberg wird ab Sonntag über „Realismus – Relativismus – Konstruktivismus“ gesprochen. Damit treffen sich dort heuer in Ludwig Wittgensteins Namen „Leute, die einander sonst aus dem Weg gehen.

„Mich interessiert nicht, wer recht hat“, sagt Josef Mitterer, „mich interessiert, wie das Rechthaben philosophisch begründet wird.“ Auch in diesem Sinn freut er sich auf das Internationale Wittgenstein-Symposion in Kirchberg am Wechsel, das heuer – von 9. bis 15. August – zum 38. Mal stattfindet. Und zwar unter dem Motto „Realismus – Relativismus – Konstruktivismus“. Das mag trocken klingen, aber Mitterer, der heuer gemeinsam mit Christian Kanzian und Katharina Neges die wissenschaftliche Leitung übernimmt, sieht es als wesentliche Neuerung: „Zum ersten Mal treten beim Wittgenstein-Symposion Vertreter verschiedener Schulen gegeneinander an, Leute, die einander sonst aus dem Weg gehen und dann die Abwesenden kritisieren. In Kirchberg dominieren ja traditionell die Realisten. Überhaupt sind Relativisten und Konstruktivisten für viele akademische Philosophen ein rotes Tuch.“ So hoffen die Veranstalter auf fruchtbare Dialoge zwischen den 150 Vortragenden aus 33 Nationen.

Woran erkennt man in der Philosophie einen Realisten? Daran, dass er eine erkennbare, vom Erkennenden unabhängige Wirklichkeit voraussetzt, der man sich zumindest nähern kann. Relativisten lassen mehrere, vom Betrachter abhängige Wirklichkeiten zu; Konstruktivisten sagen, dass eine Erkenntnis der objektiven Wirklichkeit unmöglich sei. Realisten werfen ihnen bisweilen vor, sie leugneten, dass es überhaupt eine Realität gibt. „Ich kenne aber keinen einzigen Konstruktivisten, der dies tut“, sagt Mitterer.

Er selbst wurde mit dem Buch „Das Jenseits der Philosophie“ bekannt, in dem er sich gegen das „dualistische Erkenntnisprinzip“ wendet, das er in allen (anderen) philosophischen Schulen sieht: die grundsätzliche Unterscheidung zwischen Sprache und Wirklichkeit, Beschreibung und Objekt. Diesem Dualismus setzt er eine „nicht-dualisierende Redeweise“ entgegen, in der die Wirklichkeit nicht mehr ist als „der gegenwärtige Stand der Dinge“, als „die Beschreibungen so far“, Fortsetzung folgt. Die Position Mitterers ist nicht leicht zu fassen, und dazu steht er auch: Die Verantwortung für Irrtümer in seinem Buch trage der Leser, nicht der Autor, schrieb Mitterer schelmisch in seinem Buch „Die Flucht aus der Beliebigkeit“.

Gegen eine Vereinnahmung durch die Konstruktivisten wehrt sich Mitterer. Diese argumentieren, dass die Beschreibungen der Welt nur mit anderen Beschreibungen verglichen werden können und nicht mit der Welt selbst. In dieser Sicht sei es sinnlos, von einer Annäherung an die Wirklichkeit zu sprechen, meinte Ernst von Glasersfeld, der Begründer des Radikalen Konstruktivismus: „Die Natur hat den Schlüssel weggeworfen.“

Das sieht Paul Boghossian dezidiert anders. Mit ihm kommt ein beredter Kritiker des Konstruktivismus und Relativismus – und überhaupt der postmodernen Philosophie – nach Kirchberg. In seinem Buch „Angst vor der Wahrheit“ besteht er darauf, dass es Dinge gibt, von denen wir mit Sicherheit sagen können, ob sie richtig sind oder nicht – und argumentiert u. a. gegen Richard Rorty, Thomas Kuhn – und den Genius loci selbst, Ludwig Wittgenstein. Der Wiener Philosoph Martin Kusch wird sich in seinem Vortrag explizit gegen Boghossians Antirelativismus wenden und „im Licht von Wittgensteins Philosophie“ versuchen, „einen interessanten philosophischen Relativismus zu formulieren“.

War Wittgenstein ein Relativist?

Wittgensteins Schüler und Interpreten sind sich eben durchaus nicht einig, sagt Mitterer: „Manche sagen, Wittgenstein war ein Antirelativist. Andere sagen, er war ein Relativist.“ Das wird in Kirchberg gewiss auch in etlichen der traditionellerweise zahlreichen dem Leben und Werk Wittgensteins gewidmeten Vorträgen besprochen. So meint der schottische Wissenschaftssoziologe David Bloor, Wittgenstein habe sich von einem „inkonsistenten Absolutismus“ zu einem „konsistenten Relativismus“ entwickelt.

Glaubte Wittgenstein, dass Menschen aus verschiedenen Kulturen einander verstehen können? In seinen Anmerkungen zu Frazers religionsgeschichtlichem Werk „The Golden Bough“ ja, sagt Amadeusz Just aus Warschau, später in den „Philosophischen Untersuchungen“ nein. „Wenn ein Löwe sprechen könnte, wir könnten ihn nicht verstehen“, heißt es in diesen. Daraus machte Just den Titel seines Vortrags: „Would early Wittgenstein have understood a lion?“

ZUR PERSON

Josef Mitterer, geboren 1948 in Westendorf (Tirol), studierte Philosophie, u.a. bei Paul Feyerabend in Berkeley, promovierte 1978 in Graz. Er arbeitete im Tourismus, war Reiseleiter in Europa, Amerika, Asien. Seit 1990 lehrt er Philosophie an der Uni Klagenfurt. Mit seiner „nicht-dualisierenden Redeweise“ befassen sich Philosophen, Medienwissenschaftler, Ökonomen und Soziologen. [ Gasser-Steiner]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.08.2015)

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