Der Knigge der Unhöflichkeit

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Der Name Knigge steht heute quasi synonym für gute Umgangsformen. Moritz Freiherr Knigge hat sich in seinem neuen Buch über die Unhöflichkeit an das Thema angenähert.

Ihre „Anleitung zum Unhöflichsein“ ist letztendlich doch eine um 180 Grad gedrehte Anleitung zum Höflichsein geworden.

Moritz Knigge: Fast seit Menschengedenken machen sich Menschen Gedanken, was Höflichkeit ist. Aber noch immer wünschen sich 90 Prozent der Menschen mehr Höflichkeit im Umgang miteinander. Zu wissen, was höflich ist, heißt noch lang nicht, es auch zu sein.


Oft stehen ja diejenigen, die höflich sind, als die Dummen da, die sich mit der zweitbesten Lösung zufriedengeben.

Das glaube ich überhaupt nicht. Bei einem Beispiel im Buch, bei dem ein junger Mann nicht um einen von ihm reservierten Sitzplatz streitet, hat er ja Souveränität bewiesen. Er hatte keine Lust, sich mit einem Unhöflichen zu streiten und setzte sich woanders hin. Höfliche Menschen denken nicht in Gewinner-Verlierer-Kategorien, sie denken so, dass die Möglichkeiten wachsen. Und manchmal ist es vernünftiger, auf einen Sitzplatz zu verzichten und dafür seine Nerven zu schonen.


Aber mit Ellbogentechnik kommt man doch viel eher weiter.

Da müssten wir definieren, was weiter bedeutet. Es wird gern behauptet, dass sich – entschuldigen Sie die Ausdrucksweise – die Arschlöcher durchsetzen. Vielleicht haben sie sogar die größeren Autos und Häuser, dafür aber weniger Freunde und mehr Stress. Außerdem soll es ja auch sympathische und materiell erfolgreiche Menschen geben.


Man kann also auch höflich Generaldirektor werden?

Bestimmt. Ich habe schlechte Menschen in Toppositionen kennengelernt, aber auch sehr angenehme.


Muss man manchmal unhöflich sein, weil man Vertrauen nicht voraussetzen kann?

Es gibt die Idee des hanseatischen Kaufmanns, der Verträge per Handschlag abschließt. Ich finde es schade, dass Menschen das ausnützen und daher andere glauben, alles haarklein aufschreiben zu müssen. Ich jedenfalls habe mit einer gewissen Vertrauensseligkeit gute Erfahrungen gemacht.


Sie beschreiben im Buch auch die Situation in einem Restaurant, in dem man etwas bekommt, was man nicht bestellt hat. Wo endet da die Höflichkeit?

Ein extrem schlecht deutschsprechender Chinese hat mich falsch verstanden. Ich habe „großartig“ gesagt – er hat mir ein großes Altbier gebracht. Ich halte nichts davon, in solchen Situationen auszurasten – vor allem, wenn offensichtlich ist, dass es ein lustiges Missverständnis war. Wir hätten sicher darauf bestehen können, dass wir das nicht bestellt haben und er hätte es auch zurückgenommen. Und natürlich kann ich freundlich und bestimmt darauf hinweisen, dass ich mit etwas unzufrieden bin. Mir ist nur wichtig, dass das in einem höflichen Tonfall geht.


Wenn ein Kellner sich beim Herausgeben verzählt, gibt es da eine Bagatellgrenze?

Wenn es mir auffällt, spreche ich es an Ich kann natürlich davon ausgehen, dass er versucht, mich zu betrügen. Wenn ich immer vom Bösen ausgehe, fühle ich mich immer verfolgt. Mir tun Menschen, die so denken, leid.


Führt fehlende Empathie zu Unhöflichkeit?

Wir sind alle nicht so wichtig, dass sich die Welt nur um uns selbst dreht. Wem es an Empathie fehlt, dem fehlt es an Fantasie, dass andere auch etwas wollen könnten. Höflichkeit dient dazu, das wechselseitige Wollen auszubalancieren. So wie es etwa in „Danke“, „Gern geschehen“ in der kürzesten Form zum Ausdruck kommt.


Höflichkeit kann aber auch als rhetorische Waffe eingesetzt werden.

Absolut! Höflichkeit ist ein zivilisatorisch mächtiges Werkzeug. Und wie alle mächtigen Werkzeuge kann sie auch missbraucht werden. Die rhetorische Waffe der Höflichkeit ist die Abgrenzung: „Ich zivilisiert! Du Barbar!“ Und das ruft eine Reaktion hervor: Goethe hat im „Faust“ geschrieben: Im Deutschen lügt man, wenn man höflich ist. Und von Böll stammt der Satz: „Höflichkeit ist die sicherste Form der Verachtung.“


Im Internet hat sich ja eine weder höfliche noch wahnsinnig zielführende Kommunikation etabliert.

Der große Nachteil an schriftlicher Kommunikation ist, dass ich kein Gegenüber mehr habe. Der Empfänger hat die hundertprozentige Deutungshoheit. Beim Reden gibt es den Tonfall, beim Sehen einen Gesichtsausdruck. Ein schöner Selbstversuch: Wenn man ein E-Mail bekommt, das einen ärgert, sollte man es sofort beantworten – aber nicht abschicken. Und wenn man wieder heruntergekommen ist, sollte man es lesen. Das ist ein Spiegel, um zu sehen, wie man aus einer Emotion heraus kommuniziert und was man damit anrichten kann.


Ist diese Gelassenheit auch eine soziale Frage, die mit der Erziehung zusammenhängt?

Ich glaube, das kann jeder Mensch. Wichtig ist, wenn es um die eigenen Emotionen geht, das Umfeld miteinzubeziehen. Einem Geschäftsführer eines Unternehmens, der Choleriker war, habe ich geraten, seinem Umfeld zu sagen, sie sollen, wenn er in einem Meeting aus der Haut fährt, einfach aufstehen und den Raum verlassen. Er meinte, es sei unglaublich lehrreich gewesen, plötzlich allein da zu sitzen. Man kann an sich selbst arbeiten – und man kann das Umfeld bitten, einen dabei zu unterstützen.


Und Regelbücher wie das Ihre können auch dabei helfen?

Ehrlich gesagt, verstehe ich mein Buch nicht als Regelbuch, sondern als Persiflage auf die Regelhörigkeit. Ich mache ein Angebot, über sich selbst zu schmunzeln, statt sich über andere aufzuregen oder gar zu erheben. Menschen Regeln vorzuhalten, bringt nichts, da fühlen sie sich drangsaliert. Einer meiner Leitsprüche ist: an sich selbst höchste Ansprüche richten bei möglichst viel Toleranz dem anderen gegenüber. Und: Höflichkeit hat nichts damit zu tun, Regeln auswendig zu lernen und stur auf ihnen zu bestehen.

Buchtipp

Moritz Freiherr Knigge: „Anleitung zum Unhöflichsein. Von der Kunst, sich virtuos danebenzubenehmen“
Schwarzkopf & Schwarzkopf; 13,40 Euro


Zur Person: Moritz Freiherr Knigge (geb. 1968) ist Berater für gute Umgangsformen. Er ist ein Nachfahre von Adolph Knigge, der 1788 sein wohl bekanntestes Werk „Über den Umgang mit Menschen“ herausbrachte, das heute kurz als „Knigge“ bekannt ist. Das Aufklärungsbuch wird häufig als Benimmbuch missverstanden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.09.2015)

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