Dževad Karahasan: „Der Hass ist wahr, aber die Liebe auch“

„Meine Welt ist orientalisch und europäisch zugleich, ich würde schrecklich lügen, wenn ich versuchen sollte, auf eine meiner Seiten zu verzichten“, sagt der bosnische Schriftsteller Dˇzevad Karahasan, der heute in Graz und in Sarajewo lebt.
„Meine Welt ist orientalisch und europäisch zugleich, ich würde schrecklich lügen, wenn ich versuchen sollte, auf eine meiner Seiten zu verzichten“, sagt der bosnische Schriftsteller Dˇzevad Karahasan, der heute in Graz und in Sarajewo lebt.Isolde Ohlbaum/laif
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Dževad Karahasan erzählt im Roman „Der Trost des Nachthimmels“ vom Persien des elften Jahrhunderts. Ein Gespräch über Wissensgier und Hedonismus, religiöse und säkulare Fundamentalisten – damals wie heute.

Die Presse: In Ihrem neuen Roman geht es auch um die Segnungen und die Grenzen der Wissenschaften: Der Nachthimmel – spendet er nicht deshalb Trost, weil die Bahnen der Gestirne berechenbar sind?

Dževad Karahasan: Weil sie berechenbar sind, ja. Aber auch, weil der Nachthimmel uns spüren lässt, dass es so etwas wie einen Plan gibt. Er versichert uns, dass Gesetz, Harmonie, also Kosmos doch existieren, und damit hoffentlich auch Dinge, die wir damit verbinden, wie Gerechtigkeit, Ausgleich, Sinn. Den Terror der Diesseitigkeit kann man leichter ertragen, wenn man den Nachthimmel anschauen kann: Er ist grenzenlos und hat doch eine Form, er ist unendlich tief und gleichzeitig so nah, ist Ruhe selbst und dabei voller Bewegung.

Also geht es Ihnen eher um die Grenzen unseres rationalen Weltbildes?

Ich will die Segnungen der Wissenschaft keineswegs leugnen oder vernachlässigen! Aber der Mensch ist auch ein Zoon metaphysikon, ein Wesen, das ohne Transzendenz nicht existieren kann. Und auf die wichtigen Fragen gibt die Wissenschaft keine Antwort, sie schließt das Unmessbare aus. Bei Heinrich Heine heißt es in einer Erzählung: „Es gibt Leute, welche glauben, sie könnten den Schmetterling ganz genau betrachten, wenn sie ihn mit einer Nadel aufs Papier festgestochen haben. Das ist ebenso töricht wie grausam. Der angeheftete, ruhige Schmetterling ist kein Schmetterling mehr.“

Es gibt ja nicht nur die Naturwissenschaften, es gibt auch die Philosophie!

Die nur zum Teil Wissenschaft ist, zum Teil aber Kunst. Wenn Hegel sie betreibt, ist es Wissenschaft, bei Schopenhauer und Nietzsche ist es Kunst.

Der Held Ihres Romans ist Mathematiker und Astronom: Da geht es nur um Zahlen, um Berechnung.

Omar Chayyam war eine gespaltene Persönlichkeit, einerseits ein großartiger Dichter, der Transzendenz weder leugnen konnte noch wollte, aber andererseits ein fundamentalistischer Rationalist, der sogar mit Gott grammatikalisch korrekt sprechen wollte. Mit dem Fundamentalismus ist es ja so: Ein religiöser Fundamentalist weiß wenig über die Religion, glaubt aber, mit seinem wenigen Wissen Glauben ersetzen zu können. Ein säkularer Fundamentalist hat auch wenig Wissen, er weiß zum Beispiel, dass er Gott weder gesehen noch gehört hat, und ist sich daher sicher, dass es Gott nicht gibt oder geben kann. Alle Fundamentalisten haben ein wenig Wissen, aber keine Skepsis, viel Zuversicht und keine Spur von Sich-Fragen, sie behaupten, die Wahrheit sei in einer Formel enthalten. Als Chayyam alt wird, begreift er, dass die Wahrheit viele Gesichter hat, denn der Tod ist wahr, aber auch Freude und Ungerechtigkeit sind wahr, aber auch unser Glaube an die Gerechtigkeit, und der Hass ist wahr, aber die Liebe auch.

Ihr Roman beginnt einprägsam: Ein Freund Omar Chayyams will diesem nicht glauben, dass Blut wirklich Leben bedeutet, er lässt sich selbst zur Ader und stirbt . . . Sehr drastisch!

Das ist zwar erfunden, aber es existieren historische Vorbilder: Es gab im elften Jahrhundert tatsächlich sehr radikale Experimente, Wissenschaftler, die bereit waren, extreme Versuche an sich selbst anzustellen. Die Gier nach Wissen war sehr tief, genauso wie der oberflächliche Hedonismus, die Sucht nach Wissen so groß wie der Wunsch, das Leben unbedingt auszukosten.

Sie ziehen in Ihrem Roman viele Parallelen zur Gegenwart. Ist das auch eine?

Auch heute findet sich dieser Wissensdurst, gepaart mit großem Egoismus und dem Gefühl, dass alles gesagt werden kann und gesagt werden muss. Wie damals scheint die Welt aus den Fugen zu geraten.

Sind Ihre Bücher auch ein Versuch, uns an die orientalische Kultur zu erinnern, in der die Zeitungen voll von Barbarei im Nahen und Mittleren Osten sind?

Das ist kein Programm! Aber Kunst soll uns gelegentlich dabei helfen, gegen die Wirklichkeit zu leben, zu denken, zu fühlen. Das Leben ist vielfältiger, bunter und vielschichtiger als unsere Bilder von ihm. Ich habe während der Belagerung Sarajewos meine Studenten überredet, lauter Komödien zu spielen! Und so haben wir glückliche Augenblicke erlebt, wir haben viel gelacht und gelitten. Meine Welt ist orientalisch und europäisch zugleich, ich würde schrecklich lügen, wenn ich versuchen sollte, auf eine meiner Seiten zu verzichten. In meinem Empfinden sind die beide Kulturen wie zwei Seiten eines Papierblattes miteinander verbunden.

Wie erging es Ihnen, seit wir uns 1993 kurz nach der Flucht Ihrer Frau aus Sarajewo das letzte Mal trafen? Was überraschte Sie positiv, was negativ?

Ich hatte die Möglichkeit, mein täglich Brot zu verdienen, indem ich unterrichte und schreibe, indem ich also das mache, was mir am liebsten ist. Positiv hat mich eine Erfahrung überrascht: wie groß die Bereitschaft ist, anderen zu helfen, sogar in unserer Gesellschaft, die Egoismus zur höchsten Tugend gemacht hat. Das hat mich davon überzeugt, dass wir mit der Fähigkeit auf die Welt kommen, Gut und Böse zu unterscheiden, und das Bedürfnis haben, das Gute zu tun. Ich wusste immer, dass wir mit einem ästhetischen Gefühl geboren werden, aber es tut wohl zu wissen, dass das auch mit dem ethischen Gefühl so ist. Negativ hat mich die Geschwindigkeit überrascht, mit der die Auflösung unserer Gesellschaften vonstatten geht, wie rasch sich eine kultivierte und wunderbar funktionierende Gesellschaft in eine verängstigte Masse verwandeln lässt.

ZUR PERSON

Dževad Karahasan, bosnischer Schriftsteller, floh 1993 aus dem belagerten Sarajewo nach Österreich; der Wieser-Verlag brachte im gleichen Jahr seinen Roman „Der östliche Diwan“ heraus. In „Der Trost des Nachthimmels“ (Suhrkamp-Verlag) erzählt Karahasan vom Mathematiker Omar Chayyam, der im elften Jahrhundert einen neuen Sonnenkalender erstellt. Es ist eine intensive Geschichte über den Glauben an die Vernunft und über das Gemeinwesen und seine Feinde.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.05.2016)

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