Die Königin der Lower East Side

Jami Attenberg: nach den schrulligen „Middlesteins“ eine Romanbiografie über eine ungewöhnliche Frau.
Jami Attenberg: nach den schrulligen „Middlesteins“ eine Romanbiografie über eine ungewöhnliche Frau.(c) Michael Sharkey
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Jami Attenberg setzt mit „Saint Mazie“ einer New Yorker Legende ein Denkmal: Mazie half während der Großen Depression den Armen. Und sie wusste ihr Leben zu genießen.

„Meine Liebe gilt den Straßen dieser Stadt.“ Das weiß Mazie Phillips schon als 19-Jährige, und diese Worte sind es auch, die sie in ihr Tagebuch schreibt. Mazie, ein Mädchen, das im New Yorker Stadtteil Lower East Side aufwächst, ist kein Teenager, der gern zu Hause herumsitzt oder hinter der Theke im Bonbonladen, wo sie klebrige Naschsachen an Kinder verkaufen muss. „Langweilig. Da kommen den ganzen Tag nur kleine Kinder rein, dreckiges Münzgeld, klebrige Pfoten.“ Die Mazie, wie sie uns von Jami Attenberg präsentiert wird, vereint Großherzigkeit mit einer großen Klappe, Liebe und Abgebrühtheit, Ruhelosigkeit und Pflichtbewusstsein, Sex und Moral.

Mit „Saint Mazie“ hat Attenberg einer Manhattaner Legende ein Denkmal gesetzt. Denn Mazie Phillips gab es wirklich: Sie saß tagsüber eingesperrt in einem Kassenhäuschen des „Venice“-Kino und half in ihrer Freizeit den Obdachlosen und Streunern. Sie sammelte die Burschen sprichwörtlich von der Gosse auf. Sie liebte nicht nur die Straßen, sondern auch deren Bewohner.

Schon zu Lebzeiten war die 1897 Geborene eine lokale Berühmtheit. Im New Yorker des Jahres 1940 erschien ein Porträt von ihr, in dem sie als „Star der Bowery“, einer berüchtigten Meile im Südosten Manhattans, beschrieben wird. Mazie, heißt es darin, fühle sich zu Stadtstreichern hingezogen und „undoubtedly knows more bums than any other person in the city“. Ausgerechnet im Brooklyner Stadtteil Williamsburg, am anderen Ufer des East River, gibt es heute eine nach Mazie benannte Bar mit Vintage-Holzmöblage, die freilich nur von gut situierten Stadtstreichern frequentiert wird.

Paradiesvogel und Schnapsdrossel. Auf einem alten Schwarz-Weiß-Foto, das Mazie umringt von Männern in abgetragenen Jackets zeigt, ist sie als lachende Frau zu sehen, gehüllt in eine voluminöse Pelzjacke, um den Hals eine dicke Kette, auf dem Kopf ein Turm von einem Hut. „Zwischen Paradiesvogel und Schnapsdrossel“, wie es an einer Stelle im Roman heißt.

Attenberg, die dem deutschsprachigen Publikum seit ihrem Vorgängerroman über eine kuriose Chicagoer Großfamilie – „Die Middlesteins“ – ein Begriff ist, orientiert sich lose an dem historischen Vorbild. Im Nachwort schreibt sie, ihr Roman sei vom Leben der Wohltäterin inspiriert. Attenbergs Romanbiografie ist daher keine präzise Rekonstruktion des Lebens Mazies, sie nimmt sich viele Freiheiten. Die fiktive Biografie Mazies begeistert mit ihrer Dramaturgie und Erzähllust.

In einer Collage lässt Attenberg verschiedene Stimmen zu Wort kommen – einen Nachbarn, den Mazie nachhaltig beeindruckte, ihre Schwester Jeanie, die Urenkelin eines Arbeitskollegen, Lydia Wallach, den Geschichtslehrer Elio Ferrante, dessen Leidenschaft Brooklyn ist, wo Mazie später einmal hinziehen wird. Doch am lebhaftesten sind die Auszüge aus Mazies Tagebuch, ebenfalls eine Fiktion der Autorin. Die unterschiedlichen Tonlagen entwickeln zusammen die Dynamik eines gut geschnittenen Dokumentarfilms.

Neben Mazies Spleens ist es das New Yorker Lokalkolorit, das das Buch so lesenswert macht. Die Leser erfahren ungemein viel über die Lebensbedingungen in den Elendsvierteln der 1910er- bis 1930er-Jahre: „Überall diese Leiber, nicht tot, aber manchmal anscheinend kaum noch am Leben. Wie ohnmächtig, Haut und Knochen unter ihrer verdreckten Kleidung. Ich habe ihnen gegeben, was ich in den Taschen hatte, und weiter nach mehr gewühlt“, notiert sie am 16. April 1930. Die Ära der Großen Depression und die Alkoholprohibition bilden damit ebenso den Hintergrund des Buchs wie zu seinem Beginn der Erste Weltkrieg, als Männer verschwinden und erst nach Jahren wiederkommen.


Würdevolles Leben. Jami Attenbergs „Saint Mazie“ ist daher ein Buch über die Metropole New York, über Armut und würdevolles Leben. Es ist die fiktionale Biografie einer ungewöhnlichen Frau, die den zugedachten Platz verlassen hat und sich ihre Freiheiten nimmt, anstatt darauf zu warten. Zweiflern entgegnete sie kühn: „Ich bin eine Königin, vergiss das bloß nicht.“

Neu erschienen

Jami Attenberg
„Saint Mazie“,
übersetzt von
Barbara Christ
Schöffling und Co.,
376 Seiten,
24,70 Euro

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.11.2016)

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