"Ich stochere mit Worten in Gräbern"

Josef Winkler
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Josef Winkler über Rituale in Kärnten wie auch in Indien, die dämonische Figur seines Vaters, die Trauerarbeit in seinem Totenbuch "Roppongi" und darüber, warum er als Bildermensch immer Notizbuch, Füllfeder oder Bleistift bei sich trägt.

Die Presse: Im Landestheater Niederösterreich wird einer Ihrer Prosabände dramatisiert. Sie nennen „Roppongi“ im Untertitel ein „Requiem für einen Vater“. Hätten Sie sich beim Verfassen des Textes vorstellen können, dass daraus einmal ein Stück wird?

Josef Winkler: Beim Verfassen eines Textes schaut mir niemand über die Schultern, ich konzentriere mich auf die einzelnen Sätze, schließlich im Besonderen auf Form, Stil und Klang, im Sinne eines Satzes von Hebbel: „Jeder Satz ein Menschengesicht“. An ein Theaterstück habe ich bei „Roppongi“ nicht gedacht, weder damals beim Schreiben noch heute.

Wie erklären Sie es sich, dass derzeit so viel Prosa auf die Bühne gebracht wird?

Ich gehe viel lieber ins Kino als ins Theater, ich bin ein Mensch der Bilder, die man natürlich im Film besser und deutlicher zeigen kann als auf der Bühne. Ich habe bis jetzt über zwanzig Bücher geschrieben, es gibt in diesen mehreren Tausend Seiten wenige Sätze, die nicht aus einem Sprachbild bestehen.

Sie umkreisen in dem Buch den Tod Ihres Vaters, eines Kärntner Bauern, der 99 Jahre alt wurde. Hat sich Ihr Verhältnis zu seinem Tod seither wesentlich verändert?

Ich habe in sechs, sieben oder mehr Büchern mit ihm gerungen, einmal mehr, einmal weniger, indem ich immer wieder, über Jahrzehnte über mich und über ihn in diesem katholischen Dorf geschrieben habe. Sehr wohl habe ich seine Dämonie herausgearbeitet. Er hat mich als doch rebellisches Kind, das als „schwarzes Schaf“ bezeichnet wurde, abgelehnt, mich, wie mir meine Mutter erzählte, in meinem ganzen Kinderleben nie auf den Schoß genommen. Das habe ich erst vor zehn Jahren erfahren: Es hat mich trotzdem nicht traurig gemacht, hat mein eigenes Schreiben über ihn und mich, wenn man das so sagen kann, bestätigt, ich hatte kein schlechtes Gewissen. Er war in einer gewissen Weise auch ein unterwürfiger Mensch: Erst ab seinem 30. Lebensjahr durfte mein Vater seinen Vater duzen.

Sie konnten am Begräbnis nicht teilnehmen, weil Sie gerade in Japan waren. So erfüllte sich ein Satz Ihres Vaters, der einmal sagte, Sie sollten nicht zu seinem Begräbnis kommen. Waren Sie nicht gerade durch das Buch trotzdem irgendwie dort?

Ich war froh, dass ich nicht dabei sein konnte, ich war in Tokio und Nagano. Ein voreiliger Lehrer wollte mich zurückschicken, er hat, ohne mich zu fragen, bei der AUA angerufen. Über Air France hätte ich zwei Stunden vor dem Begräbnis via Wien ankommen können. Ich konnte mir nicht vorstellen, zwischen den Begräbnisgästen im Dorf zu stehen, die mich wegen meiner Bücher verachten, die wörtlich gesagt haben: „Er hat das Dorf kaputtgeschrieben. Das ist kein Mensch. Wir im Dorf sind anständige Leut'.“ Ohne auf die Drohung zu vergessen: „Die Geschichte ist noch nicht ausgestanden!“

Hat sie sich denn noch nicht erledigt?

Nein. Auch deshalb schreibe ich weiter, es ist ein Weiterbohren und Tieferbohren. Ich war einmal in Mexiko zu Allerheiligen und Allerseelen am Fuße des Popocatépetl auf einem Dorffriedhof, habe mir Allerheiligen-Rituale angesehen: Frauen und Männer hockten bei den Gräbern und stocherten mit einer Eisenstange in den Gräbern herum. Man sagte mir, dass man die Geister der Toten aufwecken möchte. Und so verstehe ich mein Schreiben. Ich stochere mit den Worten in den erdigen Gräbern, auch in den Luftgräbern.

Im Buch geht es um Begräbnisse in Kärnten und Indien. Welche sind Ihnen fremder?

Ab dem fünften Lebensjahr war ich in meinem Heimatdorf Ministrant, war bei unzähligen Hochzeiten, Taufen, Begräbnissen dabei. Ich kannte von früher Kindheit an den Ritus. Damals habe ich es als großes Glück empfunden, Ministrant zu sein, ich war also, fantasierte ich, dem Pfarrer, da ich an seiner Seite stand, näher als die anderen Dorfleute, ich war damit auch dem Bischof näher als die anderen, und ich war auch dem Papst, dem Heiligen Vater, wie wir ihn nannten, näher als die anderen und begann, besonders, wenn ich allein die Kühe hütete auf den Feldern, Predigten zu schreiben, meine ersten Geschichten zu erzählen. Es war die Zeit von Johannes XXIII., der mich schon damals sehr beeindruckt hat. Als ich von seinem Tod aus dem Küchenradio erfahren hatte, lief ich ins Zimmer meiner Großmutter und sagte: „Oma! Da Popst is gstorbn!“ „Mein Gott na! Mein Gott na!“ antwortete die Großmutter. Ein halbes Jahr später war sie selbst tot. Die katholischen Begräbnisrituale sind mir von früher Kindheit an in die Knochen gefahren, sie stecken heute noch tief drinnen. Bei den hinduistischen Begräbnisritualen bin ich nur „Beisitzer“, „Zuseher“, „Zuschauer“, und selbst wenn ich über hinduistische Begräbnisrituale lese, kann ich sie nicht verstehen, im bekannten Sinne: Man kann nur etwas begreifen, was einen ergreift.

In Varanasi, der für Hindus heiligsten Stadt, haben Sie Hunderte Verbrennungen beobachtet. Sie schreiben, dass Sie diese Einäscherungen ohne Notizbücher und Füllfeder nicht hätten anschauen können.

Immer, wenn ich unterwegs bin, habe ich mein Notizbuch und die Füllfeder, inzwischen den Bleistift, in der Hand und zeichne an Ort und Stelle auf, was mir auffällt, gefällt, von dem ich mir vorstellen kann, dass ich die Beobachtung und die darauffolgenden Beobachtungen zu Sätzen, vielleicht zu kleinen Geschichten bauen kann. Auf diese Art und Weise halte ich fest, was ich sonst im Detail vergessen würde. Auch ich halte mich in und durch die Aufzeichnung fest und gehe nicht verloren. Als ich in Varanasi „Domra – Am Ufer des Ganges“ schrieb, bin ich vor oder zwischen den brennenden Scheiterhaufen gesessen und habe im Detail – als Bildermensch auch wiederum – die sogenannten Kleinigkeiten, die zu einem großen Ganzen werden können, aufgezeichnet und aufgeschrieben. Ich habe alles festgehalten für ein zukünftiges Buch. Das hat mich schon bei Thomas Bernhard beeindruckt, der über sich selbst selbstbewusst gesagt hat: „Mein Thema, das ist der Tod!“ Und wie man weiß, ist der Tod nicht nur ein Meister aus Deutschland, sondern auch aus Österreich.

DICHTER UND DRAMATISIERUNG

Josef Winkler (* 1953 in Kamering) wurde bereits für seinen ersten Roman „Menschenkind“ (1979) ausgezeichnet, den Beginn der Trilogie „Das wilde Kärnten“. 2008 erhielt Winkler den Büchner-Preis, 2007 war der Prosaband „Roppongi“ erschienen.

Die Dramatisierung dieses „Requiems für einen Vater“ wird am 20. 1. (19.30 Uhr) in der Theaterwerkstatt des Landestheaters Niederösterreich uraufgeführt, Julia Jost (* 1982) führt dabei Regie.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.01.2017)

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