Einsamkeit ist auch ein Gefühl

Moderne Romane könnten ihn nicht mehr überraschen, meint Andrew Miller.
Moderne Romane könnten ihn nicht mehr überraschen, meint Andrew Miller.(c) Abbie Trayler-Smith
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Andrew Miller hat mit „Nachts ist das Meer nur ein Geräusch“ ein Triptychon von einem Roman geschrieben. Wer offene Ausgänge mag, wird das Buch zufrieden zuklappen.

Der englische Autor Andrew Miller erreichte einen Punkt, an dem er Romane anfing und sie alsbald wieder weglegte. „Nach ein paar Seiten hatte ich immer das Gefühl zu wissen, worauf sie hinauswollten“, sagte er der Tageszeitung „The Guardian“. Zumindest einen Teil dieser literarischen Entfremdung schob Miller auf eine persönliche Midlife-Krise; den anderen, und vermutlich größeren, darauf, dass ihn moderne Romane nicht mehr überraschen konnten.

Also wagte Miller etwas Neues. Das Ergebnis heißt „Nachts ist das Meer nur ein Geräusch“ und erzählt die Geschichte von Maud, einer jungen Frau, die sich – ebenso wie Millers Buch – nicht mit herkömmlichen Maßstäben messen lässt. Einige der Menschen, die von Maud gleichzeitig angezogen und abgestoßen werden, halten das für eine Form von Asperger Syndrom. Miller lässt diese Frage – wie so viele andere auch – allerdings offen. Für ihn ist Maud eine völlig unverfälschte Person, die sich selbst und ihre Umwelt nicht wirklich wahrnimmt, genau dadurch aber die Menschen rund um sich dazu bringt, ihre Masken fallen zu lassen.

Einer derjenigen, die versuchen, hinter Mauds ungerührte Fassade zu blicken, ist Tim, den sie im Segelklub der Universität kennenlernt. Ganz anders als Maud, die in einem emotionslosen Kleinstadtambiente aufgewachsen ist, stammt Tim aus einer niedrigen Adelsfamilie, die ebenso viel Geld wie Probleme mit sich herumschleppt. Das ist einer der Gründe, warum die Leben von Maud und Tim bald wieder auseinander driften: Sie arbeitet mehr, er kann es sich leisten, zu Hause zu bleiben, zu komponieren und sich um die gemeinsame Tochter Zoe zu kümmern. Dieses Arrangement scheint für beide zu funktionieren, doch dann kommt es zu einer familiären Tragödie.

Triptychon. Maud verkriecht sich auf einem alten Boot, kappt irgendwann die Leinen, nimmt Kurs auf den Atlantik. Endlich scheint sie die ihr gemäße Lebensform gefunden zu haben, bis ein Sturm ihr Boot lahmlegt. Als Maud an eine Insel gespült und auf eine geheimnisvolle Gruppe verlassener Kinder trifft, verliert sich das Buch in einer fantastischen Stimmung.

„In der Nacht ist das Meer nur ein Geräusch“ ist ein Triptychon von einem Roman, ein Teil Liebesgeschichte, ein Teil Abenteuerroman und ein Teil fantastische Erzählung. Miller, der im deutschen Sprachraum mit „Die Gabe des Schmerzes“ bekannt wurde, hat ohne Zweifel einen ungewöhnlichen Roman geschrieben, allerdings einen, der nicht für jeden Leser funktionieren wird. Der erste Teil, in dem Mauds Mysterium im Mittelpunkt steht, und der vor allem aus Tims Perspektive erzählt wird, hat den straffesten Spannungsbogen und fasziniert durch seine scharfen Beobachtungen. Mauds Verzweiflung und ihre einsame Segelreise sind brillant geschildert, allerdings in einem ganz anderen Ton. Und der letzte Teil der Geschichte ist einfach Geschmackssache. Miller verweigert einen definitiven Schluss und setzt den Leser wie Maud in der Wildnis aus. Wer offene Ausgänge mag, wird das Buch zufrieden zuklappen. Wirklich loslassen wird der Roman aber weder den einen noch den anderen.

Neu Erschienen

Andrew Miller
„Nachts ist das Meer nur ein Geräusch“, übersetzt von Nikolaus Stingl, Zsolnay Verlag,
368 Seiten,
24,70 Euro

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.04.2017)

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