Anna Gavalda: Vom Verlieren und Wiederfinden

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Anna Gavalda hat ihrem Erzählband „Ab morgen wird alles anders“ Menschen porträtiert, die den Mut verloren haben und trotzdem nicht aufgeben. Berührend.

Ein Mann bringt seinen alten Hund zum Tierarzt. Er muss eingeschläfert werden. Jeannot – Lkw-Fahrer – will den Hund natürlich nicht der Tierkörperverwertung überlassen, er sucht eine geeignete Stelle, ihn zu bestatten. Der eigentliche Hund aber ist ganz woanders begraben: Vor Jahren ist Jeannots Sohn gestorben – sein ganzes Leben lang kränklich, erliegt er im Teenageralter seinem Asthma. Seither ist die Ehe, schon vorher nicht wirklich gut, kaputt. Jeannot schläft im Keller des Hauses. Und dann verliert er auch noch den Hund.

Mathilde ist eine fröhliche, oberflächliche Studentin, die in einer WG mit zwei langweiligen Schwestern wohnt. Die Wohnung muss renoviert werden – Mathilde soll die Handwerker ausbezahlen, bekommt von ihren Mitbewohnerinnen Geld. Viel Geld, zehntausend Euro in bar – und verliert sie. Lässt ihre Handtasche in einer Spelunke stehen. Als sie es bemerkt und zurückkehrt, ist alles weg. Handtasche, Geld, Identität in Form von Ausweisen, Schlüsseln, Kreditkarten, Telefon – und einem Brief.

Morgen wird alles anders. Es sind Geschichten von Menschen, die sich in ihrem Leben nicht zurechtfinden, die wissen, dass sie etwas ändern müssen: Morgen wird alles anders. Wie oft denken wir diesen Satz? Wie wenig setzen wir ihn um. Die Menschen in Anna Gavaldas Erzählungen tun das – sie sind verzweifelt genug.

Gavaldas Protagonisten sind keine Helden, auch keine Intellektuellen. Vollkommen uneitel lässt die Autorin ihren Figuren die jeweils eigene Sprache, die manchmal geradezu simpel anmutet, obwohl Gavalda auch ganz anders schreiben kann. Lässt sie einen Schriftsteller – selbstironischerweise keine sympathische Figur – zu Wort kommen, wechselt sie ansatzlos zu vollmundig, prall, bilderreich, poetisch – auch das ungekünstelt.

Die Sprache aber ist es auch, anhand derer wir die Entwicklung der Menschen mitvollziehen. Während Mathilde zu Beginn fast ausschließlich Banales von sich gibt, werden Gedanken und damit Worte, Sätze vielstimmiger, bunter, tiefer, als Mathilde sich endlich zu sich selbst bekennt, die It-Girl-Fassade abblättert und die traurige Geschichte darunter offenbar wird. Interessant auch, wie Gavalda ungeniert die Perspektiven wechselt, wenn es der Erzählung dient. Die Geschichten sind in der Ichform geschrieben, wird es analytischer, ist da plötzlich ein auktorialer, distanzierter Erzähler.

„Zusammen ist man weniger allein“, hieß einer der erfolgreichen Romane Gavaldas. Das trifft auch auf die Figuren dieses Buches zu. Und nicht nur auf sie. Auch die Leser sind nicht mehr allein: Die knapp 30-Jährigen, die nach langem Suchen auf allen Foren, Plattformen und Unterstützung durch Coachings als gut Ausgebildete noch immer keinen Job haben: Sie sind nicht mehr die Einzigen, die keine Perspektive haben. Die Eltern der Kinder, die etwas furchtbar falsch gemacht haben, sind nicht mehr die Einzigen, deren Kinder fehlen. Es gebe reife und unreife Formen, mit der Angst umzugehen, sagt der Kinder- und Jugendpsychiater Patrick Frottier. Zu den reifen gehöre der Humor. Den haben auch Anna Gavaldas Figuren oder finden ihn – lang verschüttet – in der Begegnung mit humorvollen Menschen wieder.

So sind diese Texte die Antithese zum derzeit gängigen Diktum, wonach jeder selbst seines Glückes Schmied sei. Nein: Es gibt wirtschaftliche Verwerfungen, es herrscht Jobmangel, wir können nicht alles beeinflussen.

Wider die Lebenslüge. Gavaldas gut platzierte, gut dosierte Ironie ist es, die das Buch trotz erkennbarer Botschaften nicht ins Kitschige abgleiten und zum literarischen Ratgeber für alle Lebenslagen verkommen lässt. Eine der wichtigsten scheint Gavalda zu sein, dass Menschen erst dann etwas ändern können, wenn sie bereit sind, genau hinzuschauen, die eigenen Abgründe nicht zuzupappen, sondern die Lücken, wenn schon nicht anzunehmen, so doch zu sehen: die Stelle zu suchen, an der der Hund begraben liegt.

Neu Erschienen

Anna Gavalda: „Ab morgen wird alles anders“, übersetzt von: Ina Kronenberger, Hanser Verlag, 298 Seiten, 20,60 Euro

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.06.2017)

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