Große Löcher mit ein bisschen Socke

Samuel Selvons„Taugenichtse“ kamen aus der Karibik nach London und schufen sich ein Leben im Schatten des Grenfell Tower.

Mit der deutschen Erstauflage des Romans „Die Taugenichtse“ ist dem Deutschen Taschenbuch Verlag ein Coup gelungen. Zum einen ist das 1956 unter dem Titel „Lonely Londoners“ erschienene Buch von Samuel Selvon ein Meisterwerk. Zum anderen hat das Buch angesichts der Tragödie im Grenfell Tower geradezu gespenstische Aktualität, denn es schildert das Leben in London aus der Sicht von Einwanderern.

Hier ließen sich nach dem Zweiten Weltkrieg Fremde aus der Karibik nieder, die von der britischen Regierung ins Land gerufen worden waren. Als „Generation Windrush“ wurden die Menschen nach dem Schiff, das im Jahr 1948 die ersten 492 Einwanderer über den Atlantik brachte, später bezeichnet. In der neuen Heimat wurden die sogenannten „Mokkas“ vielleicht gebraucht, aber alles andere als mit offenen Armen empfangen: „Sie sagen dir nicht in die Augen, dass sie keine dunklen Kollegen wollen, sie sagen nur, tut uns leid, die Stelle ist besetzt.“

So erklärt Moses, die Hauptperson von Selvons Roman, einem Neuankömmling die Tücken der Stellensuche. Arbeit zu finden ist das Wichtigste: „Ein Mann ohne Arbeit ist wie ein Fisch ohne Wasser, der nach Luft schnappt.“ Doch das Arbeitsamt ist „ein Ort, wo Hass und Ekel und Habgier und Bosheit und Geldkriegen vom Staat und Mitleid, wo das alles sich vermischt.“ Die Einwanderer aus der Karibik lassen sich im Westen Londons im Stadtteil Bayswater nieder. Dort befindet sich Notting Hill, jetzt ein Nobelbezirk, damals eine Gegend vorwiegend billiger Absteigen. In diesem Gebiet entstanden in späteren Jahren zur Linderung der akuten Wohnungsnot Gebäude wie der 1972 errichtete Grenfell Tower, der Mitte Juni von einem Großbrand zerstört wurde, wobei möglicherweise Hunderte Menschen ums Leben kamen.
Armut neben Reichtum. In der Nähe befinden sich heute wie in den 1950ern, in denen der Roman spielt, Gegenden großen Reichtums. Das sind zwei Welten, die sich im Normalfall niemals berühren: „Das ist so in dieser Stadt. Sie ist zerteilt in kleine Welten, und man bleibt in der Welt, wo man hingehört, und man weiß nichts davon, was in der anderen Welt passiert, außer was man in der Zeitung liest.“

In der Welt der Einwanderer, da wechseln die Menschen ständig ihre Unterkünfte, da besitzen sie nicht mehr als die Kleidung, die sie an ihrem Körper tragen: „Und an den Füßen große Löcher mit bisschen Socke drin.“ Und nie reicht das Geld, nicht einmal für das Nötigste, nämlich: „Schlafen, essen, Muschi jagen.“ An Orten wie Piccadilly Circus oder Marble Arch verbringen die jungen Männer aus der Karibik Stunden, Tage und Wochen, „bis eine bereit ist, in die Büsche mitzugehen“. Kalt ist ihnen nicht nur wegen des Klimas: „In London akzeptiert uns keiner. Sie dulden uns, ja, aber wir kommen nicht zu ihnen ins Haus und essen, sitzen, reden“, sagt Moses. Und dennoch fragt er sich auch: „Was hat eine Stadt, was hat irgendein Ort an der Welt, das man ihn so sehr mag und nirgendwo anders hinwill? In das Heimweh mischt sich der Beginn eines neuen Zuhauses.

Bei der „Generation Windrush“ schlugen Parlamentarier nach der Einwanderung von 40.000 Menschen Alarm. In dem Brexit-Referendum stimmten die Briten angesichts einer ungleich größeren Einwanderungswelle dafür, die Uhr zurückzudrehen. Dass das ein sinnloses Unterfangen ist, zeigen „Die Taugenichtse“ in tragikomischer, melancholischer und sentimentaler Art zugleich.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.07.2017)

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