Christine Nöstlinger: "Eltern damals schnell empört"

Christine Nöstlinger
Christine Nöstlinger(c) Michaela Bruckberger
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Christine Nöstlinger erzählt, warum sie zu schreiben begann und dass sie kein Organ für Gott hat, dass sie aber die spirituell Beliebigen noch weniger versteht als die Gläubigen mit strengen Regeln.

Bei unserem letzten Gespräch haben Sie mir von einem Kinderbuch erzählt, das Sie sehr geliebt haben, aber nirgendwo mehr finden können.

Nöstlinger:Es hat sich auf den Artikel hin tatsächlich jemand gemeldet und mir das Buch geschickt! Es heißt „Lore und der Feuerwehrmann“. Ich war ein bisschen enttäuscht. Das war eine ganz einfache, sogar ein bisschen lächerliche Geschichte. Gar nicht so, wie ich sie in Erinnerung hatte! Ich fand meine Geschichte ehrlich gesagt besser.

Wie ging denn Ihre Geschichte?

In meiner Erinnerung handelte das Buch von einem Feuerwehrmann, der immer Schnaps trinkt und deshalb eine rote Nase hat. Eines Abends torkelt er nach Hause und schläft auf dem Heimweg ein. Es beginnt zu schneien, und er liegt unter einem Berg von Schnee. Aber seine rote Nase taut den Schneeberg wieder ab! Die rote Nase kommt in Wirklichkeit in der Geschichte gar nicht vor.

Haben Sie das als Kind häufiger gemacht? Sich ein Buch spannender gedichtet?

Es gab da das „Tagebuch der Gräfin Bileschowski“, einen Schundroman. Ich muss ihn knapp nach Kriegsende gekauft haben, das weiß ich, weil ich noch mit Mark bezahlt habe: Er hatte einen Jugendstileinband und war in Fraktur geschrieben, weshalb ich dauernd das S mit dem F verwechselte. Was mich besonders beeindruckt hat, war der Mittelteil: Er fehlte komplett. Circa 200 Seiten waren verloren gegangen. Auf Seite 40 brach das Buch an der Stelle ab, an der die Gräfin gerade von russischen Mönchen in einem Kloster gefangen gehalten wurde. Und dann ging die Geschichte weiter damit, dass sie die Geliebte eines französischen Grafen ist und in einem Palais wohnt. Ich habe drei Jahre damit zugebracht, mir zu überlegen, was sich dazwischen zugetragen haben mag! Neulich habe ich die Gräfin Bileschowski sogar gegoogelt – ohne Erfolg.

Trotzdem dauerte es lange, bis Sie Ihr erstes Buch veröffentlichten.

Ich war ja Gebrauchsgrafikerin – ich wollte ein Bilderbuch machen und habe mir eine Geschichte dazu ausgedacht. Ich war in einer verzweifelten Lage: Ich hatte mich nie als Hausfrau und Mutter gesehen. Und dann war es passiert, dass ich mit zwei Kindern dastand und einem Ehemann, der morgens außer Haus ging. Damals gab es ja noch keine Kindergartenplätze, ich konnte nicht arbeiten gehen und mein Selbstbewusstsein war am Boden. Als das Buch ein paar Preise bekommen hat, war ich fasziniert davon, dass es etwas gibt, was ich wirklich kann!

Damals waren die Kinderbücher noch hochmoralisch.

Und die Eltern schnell empört. Ich habe gemeinsam mit anderen Autoren ein Lesebuch gemacht, in dem eine schwangere Frau vorkam. Die war auch abgebildet. Ich bekam einen Brief von einer Mutter, die meinte: „Endlich hatte mein Sohn aufgehört zu fragen – und jetzt fängt er wieder damit an!“ Ein anderer Briefeschreiber hat den Brief an mich zerstochen – stellvertretend für mich, weil er mich ja nicht leibhaftig vor sich habe. Und als „Der Spatz in der Hand“ mit einem Cover erschienen ist, der ein Mädchen auf dem Klo zeigt, vollkommen angezogen, wohlgemerkt, nicht mit heruntergelassenen Hosen, hat der Deutsche Bibliothekenverband das Buch abbestellt.

Was hat sich in der Lebenswelt der Kinder geändert, seit Sie schreiben?

Die Konfliktmomente – Schule, Eltern, Liebe – sind gleich geblieben. Aber für die Kinder aus gutbürgerlichen Haushalten hat sich die Situation sicher verbessert. Bei den andern bin ich mir nicht so sicher.

Was schenken Sie Ihren Enkeln zu Weihnachten? Bücher?

Weniger. Sie leben in Belgien und lesen keine deutschen Bücher. Ich schenke ihnen vierzehn Tage Urlaub in Thailand!

Das ist sehr großzügig.

Wir fahren alle gemeinsam, zwei Töchter, zwei Schwiegersöhne, zwei Enkel und ich. Bisher haben wir ja immer im Waldviertel gefeiert, aber als ich neulich über das Sauwetter geflucht und gemeint habe, ich möchte ins Warme, da sind meine Töchter sofort losgezogen und haben Prospekte geholt. Die Geschwindigkeit, mit der sie das gemacht haben, war für mich ein Zeichen dafür, dass ihnen das Waldviertel schon länger gereicht hat. Und was die Enkel betrifft: In Belgien werden die Geschenke am sechsten Dezember vom Nikolaus gebracht. Weihnachten ist dann nur mehr so etwas wie ein großes Fressen.

Das klingt alles sehr unsentimental.

Ich bin unsentimental. Dafür war meine Mutter umso fanatischer in diesen Dingen! Unglaublich, was sie inszeniert hat! Sie hat schon im Februar angefangen, Geschenke zu kaufen. Dann besorgte sie uns immer einen Christbaum, der einen halben Meter höher war als unser Zimmer. Mein Vater musste ihn absägen – und weil die Bäume nicht so regelmäßig gewachsen waren wie heute, hat mein Vater außerdem noch Löcher in den Stamm bohren und die abgeschnittenen Äste dort einsetzen müssen. Das halbe Zimmer war verstellt. Sie war in einer reichen Familie aufgewachsen, ist dann aber arm geworden – und ich glaube, wenigstens an Weihnachten wollte sie uns das Gefühl geben, wohlhabend zu sein.

Weihnachten ist für Sie kein religiöses Fest?

Keiner von uns hat religiöse Gedanken, die er verwerten könnte. Ich wüsste nicht, wo ich einen Gott hernehmen sollte. Ich habe dafür gar kein Organ. Wobei ich noch am ehesten jene verstehe, die einer Konfession angehören, einer Religionsgemeinschaft mit strikten Regeln. Was mich irritiert, sind jene Menschen, die so beliebig sind. Nach dem Motto: Nach dem Tod wird es schon irgendwie weitergehen. Oder: Es wird da oben schon irgendeine höhere Macht geben. Die nehmen sich nach Gutdünken ein Stückerl Buddhismus, etwas Katholisches...

Ich habe neulich meiner Tochter während der Mathematikschularbeit die Daumen gehalten.

Das habe ich nie gemacht. Nur eines fällt mir ein, was man als abergläubisch bezeichnen könnte: Ein Schriftstellerkollege hat eine Lesung abgesagt mit der Begründung, seine jüngste Tochter hätte einen schweren Autounfall gehabt und liege auf der Intensivstation. Es stellte sich heraus, das war gelogen. Da war ich schockiert.

Ist das nicht eher ein moralisches Empören als ein Aberglaube?

Aber meine Irritation hatte auch etwas damit zu tun, dass man nichts verschreien darf. Dass man so etwas nicht sagen darf, weil in der Folge vielleicht Böses passiert. Noch etwas: Bei uns im Hausflur gab es große gelbe Fliesen – und als Kind habe ich vermieden, auf sie zu treten.

Ich habe mit Gott gehandelt. Nach dem Motto: Wenn meine Eltern nicht draufkommen, dass ich sie angelogen habe, gehe ich am Sonntag in die Kirche.

Um auf solche Ideen zu kommen, hätte ich vielleicht in den Religionsunterricht gehen müssen. Aber ich bin in der Nazizeit aufgewachsen – da gab es zwar Religionsunterricht, aber nur für die Schüler verschiedener Schulen gemeinsam. Der Katechet hat uns also abgeholt, aber auf dem Weg zur anderen Schule sind wir bei unserem Haustor vorbeigekommen – und ich bin abgebogen.

Hatten Sie nie die Sehnsucht, etwas zu glauben? Anzunehmen, es gebe ein Leben nach dem Tod, kann doch sehr beruhigend sein.

Dazu müsste man wissen, was das für ein Leben ist! Es kann ja auch ein ganz schreckliches sein.

Nehmen wir an, es ist etwas Schönes.

Ich kann an keinen gütigen Gott glauben! Mir kommt es blasphemisch vor, in die Kirche zu gehen und ein Kerzerl anzuzünden, damit es zum Beispiel in der Liebe klappt, während auf der Welt all diese Scheußlichkeiten passieren. Was ist das für ein Missbrauch! Wenn es einen Gott gäbe, dann würde ich mit ihm nichts zu tun haben wollen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.12.2009)

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