Morton: "Bin ein widerwilliger Atheist"

(c) Teresa Zötl
  • Drucken

Der Knabe Fritz Mandelbaum musste Wien verlassen. In New York wurde aus ihm Frederic Morton. Warum er immer wieder zurückkehrt und doch nicht bleibt. Und warum er an einen Gott glauben möchte und doch nicht kann.

Sie hegen eine ausgeprägte Leidenschaft für Manner-Schnitten – woher diese Passion?

Frederic Morton:Der 29. Juni 1939 warunser Emigrationstag. Im Morgengrauen sind wir um die Ecke gegangen, mit schweren Koffern, dort wartete das Taxi. Da erschien ganz unerwartet unsere Hausbesorgerin. Wir wussten nicht, wo ihre Sympathien liegen. Sie half mir – ich war 14 –, meinen Koffer zu tragen. Und plötzlich griff sie in ihre Schürze und gab mir ein Packerl Manner-Schnitten. „Da hast was Süßes für die schwere Reise.“ Ich habe es nie vergessen. In New York kriege ich sie in einemLebensmittelgeschäft am Broadway namens Zabar's. Die haben alle SortenManner-Schnitten.

Sie leben in der Upper West Side.

Und aus diesem Viertel komme ich selten raus. Bei uns in Wien war das auch so. Hernals, das war unsere Welt. Nur einmal in der Woche fuhren wir hinein in die Stadt, mit dem C-Wagen. Schön angezogen. Als meine Eltern dann das erste Mal ins Nachkriegs-Wien zurückkamen, wohnten sie im Hotel Regina, weil das gleich an der Verlängerung der Alser Straße liegt. Meine Mutter konnte in der Nacht nicht einschlafen. Da sagte mein Vater: „Pass auf, wir packen, damit wir jederzeit wegfahren können.“ Das haben sie auch gemacht. Danach konnte meine Mutter schlafen.

Im Vorzimmer Ihrer Wohnung hängt angeblich ein Hernalser Straßenschild.

Nicht nur angeblich. Es ist das Schildmeiner Heimatgasse, der Thelemangasse – nach der auch mein Roman „Ewigkeitsgasse“ entstanden ist. Es ist das Originalschild meiner Kindheit, schwarz auf weiß.

War der Haushalt Ihrer Familie ein Oberschichtenhaushalt?

Mein Vater war ein Hausherr und ein Metallwarenfabrikant. Es war geplant, dass ich den Betrieb übernehme. Ich war völlig unintellektuell, niemand hätte je gedacht, dass ich Schriftsteller werde. Ich genoss auch Klavierunterricht, natürlich. Und natürlich gegen meinen Willen. Aber sonst lebten wir kleinbürgerlich. Wir hausten in einer Wohnung ohne Fließwasser, obwohl sich mein Vaterdas leicht hätte leisten können. Erst spät wurde die Wohnung renoviert, dreiTage nach dem Anschluss kamen die neuen Möbel. Und bald durfte mein Vater dann auch den Gehsteig bürsten. Ja, er war ein sogenannter Bürstel-Jud. In seiner Heimatgasse.

Am Wiener Schmäh hat sich nicht viel geändert, oder?

Die Wiener sind unerhört charmant. Auf die Art eines Höflings. Das Genie des Höflings, zu charmieren, haben wir über Generationen entwickelt. Meine Eltern sind ja sehr alt geworden, mein Vater 100, meine Mutter 97. Als ich sie als 70-Jähriger in Miami besuchte, sagte ich zur Begrüßung noch immer:„Küss die Hand, Mutter, küss die Hand, Vater.“ Die Stadt führt kollektiv und individuell einen herrlichen Schmäh, denich sehr genieße. Und obwohl ich Englisch ohne Akzent spreche, habe ich mich dabei ertappt, wie ich den Wiener Schmäh auch auf Englisch führe.

Das heutige Wien ist sehr nett zu Ihnen. Dennoch: Glauben Sie nicht, dass Sie zu nachsichtig mit Wien sind?

Bis 1938 habe ich sehr wenig vom Antisemitismus gespürt. Im Gymnasiumwar der Renner Thurl, mit dem ich so gut Fangerl gespielt hab. Wir waren die Schnellsten. Doch am ersten Schultagnach dem Anschluss meinte er: „Mit an Jud spiel ich net.“ Dieser kleine Judenbub in mir wird Wien immer in einem seltsamen Zwielicht sehen. Mein anderes Ich ist der Intellektuelle, der gesehen hat, wie meine „Fellow Americans“sich während des Vietnamkriegs verhalten haben. Die Österreicher oder Deutschen sind keine Teufel. Wennman so denkt, macht man nur, was Hitler mit den Juden gemacht hat.

Ist dieses Zwielicht literarisch ergiebig?

Daraus kann man schöpfen. Ambivalenz ist literarisch ergiebig, Zwiespältigkeit. Einerseits fühle ich mich beraubt durch die Entwurzelung. Doch die englische Sprache, in welcher ich gelernt habe, mich nach dem Alten zu sehnen, gießt eine wunderbare Fremdheit über das Vertraute.

Haben Sie je daran gedacht, ganz nach Wien zurückzukehren?

Gedacht schon. Aber ich will auch körperlich in dieser Ambivalenz bleiben. Und das kann ich nur, wenn ich in New York wohne. Ich komme nach Wien, um meine Zwiespältigkeit aufzufrischen.

Hat Ihre Hoffnung „Obama“ sich erfüllt?

Obama war ein Ideal: Einer, der unten war, kommt nach ganz oben. Dass ein Schwarzer Präsident wird, war ein Teil des amerikanischen Versuchs, messianisch über sich selbst hinauszuwachsen. 2008 war ein Verzweiflungsjahr, da wurde ein Messias gesucht, jemand, der ganz anders ist. Wenn da einer von unten kommt, dann wird alles anders werden. Natürlich ist diese Rechnung nicht aufgegangen. Natürlich hat Obama viel von der alten Politik übernommen.

Ihre Dankbarkeit gegenüber den USA reicht nicht so weit, dass Sie diesem Land vieles nachsehen würden.

Wenn ich Amerika kritisch gegenüberstehe, ist das eine Kritik an westlichem Denken im Allgemeinen. Dieser unerhört krasse Individualismus der unguten Art, der verheerend ist, dieser unerhörte Egoismus! Alles, was gemeinschaftlich ist, wird als Hindernis abgelehnt. Mit diesem Individualismus ist aber immer eine Verzweiflung verbunden. Denn es ist nie genug, ich bin nieder, der ich sein sollte. Tatsache ist eben, dass sich der Mensch nur als Teil einer Gemeinschaft kennt. Martin Buber hat in „Ich und Du“ wunderbar darüber geschrieben.

Sie vermissen Grundsolidarität, Gemeinsinn?

Das liegt auch an der Technologie. Mangeht nicht mehr in die Bank, nicht mehr einkaufen. Dadurch verliert man immermehr soziales Kapital. Meine Tochter bringt mir jetzt den Umgang mit Computer und Internet bei, na ja. Ich hatte auch nie ein Auto. „On demand“ ist das Motto, man braucht keine Geduld mehr, muss auf nichts mehr warten. Kommt alles auf Knopfdruck.

Geht damit auch die Kultur der Freundschaftverloren? Sind Sie ein Eigenbrötler?

Zu einem gewissen Grad haben Sie recht. Jetzt besonders, da ich meine Frau verloren habe, die viel geselliger war als ich. Aber ich habe Freunde, vielleicht nicht so viele wie andere. Freundschaft, das ist oft nicht mehr als ein Euphemismus für Networking. Angeblich gut für die Karriere.

Haben Sie einen Gott?

Nein, leider nein. Eigentlich bin ich da schon als Kind nie so ganz mitgekommen. Der jüdische Glaube, wie er bei uns im Tempel zelebriert wurde, war irgendwie... sagen wir: Ich hätte mich zwar niemals taufen lassen, aber mir war schon damals der katholische Glaube etwas verständlicher, eingängiger. Da war mehr los, Blumen, Kerzen.

Haben Sie Ihren Gott an die Nazis verloren oder an die Intellektualität?

Kein Zweifel, an die Intellektualität. Es wäre viel heimeliger, einen Gott zu haben. Sodass alles einen Sinn und einen Zweck hat. Mein Vater war kein orthodoxer Jude, doch er hat an einen Gott geglaubt. Das hat ihm auch in der Nazizeit sehr geholfen, da war er ja wie ein Fels. Und im hohen Alter. Wahrscheinlich auch gesundheitlich, er war mit 99 noch immer gut beinander. Ach Gott, ich bin ein widerwilliger Atheist.

Wie dürfen wir uns das vorstellen? Wenn der Fritz Mandelbaum alias Fred Morton dereinst mit 103 Jahren stirbt...

...oder mit 105 ...

... ist er dann einfach: nicht mehr da? Für ewig?

Da gab es im frühen 19. Jahrhundert einen großen englischen Essayisten, William Hazlitt, der meinte, er habe kein Problem damit, dass er vor 900 Jahren nicht am Leben war. Warum sollte er also ein Problem haben, in 900 Jahren nicht mehr am Leben zu sein? Zum Individualismus gehört allerdings diese Besessenheit, unsterblich zu sein. Genauso wie ich der Erste sein muss, muss ich der Ewige sein. Es darf nie aufhören.

Sie sind ja abgebrüht genug, dass man Sie fragen kann: Wo wollen Sie begraben sein?

Na, gar so abgebrüht nun leider auch wieder nicht... Vielleicht dann doch auf dem Zentralfriedhof. Im Grab der Großeltern. Jedes Mal, wenn ich zurückkehre, habe ich diese ganz aussichtslose Hoffnung, dass da wieder das Wien meiner Kindheit ist, meiner Eltern, meiner Großeltern.

Sind Sie einsam?

Ja. Länge mal Breite.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.10.2010)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.