Kassandras Warnung nach dem Störfall

Japans Atomkatastrophe macht Bücher von Wolf und Pausewang wieder aktuell.

Christa Wolf (*1929) und Gudrun Pausewang (*1928) sind derzeit neben angegrauten Atomkraft- und Katastrophenexperten beliebte Interviewpartner in deutschen Medien. Vor 24 Jahren, unmittelbar nach dem Unfall im sowjetischen AKW Tschernobyl, haben die beiden Schriftstellerinnen dieses Ereignis in sehr unterschiedlicher Prosa abgearbeitet. „Störfall“ heißt die Erzählung der Ostdeutschen Wolf, „Die Wolke“ der Jugendroman der Westdeutschen Pausewang. Gemeinsam ist beiden Büchern, dass sie Millionen Leser mit viel Engagement bewegt haben.

Beide sind Schullektüre geworden. Besonders das Buch von Pausewang hatte nachhaltige Wirkung auf eine Generation von Schülern, aber auch auf Erwachsene. Eine tiefe Verwurzelung im kollektiven Gedächtnis der heute Zwanzig- bis Fünfundvierzigjährigen behauptet Tilman Spreckelsen in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“.


Super-GAU in Deutschland. Das Buch wurde mit dem deutschen Jugendliteraturpreis 1988 ausgezeichnet. Es handelt vom Schicksal der 14-jährigen Janna-Berta, aus deren Perspektive ein Super-GAU mitten in Deutschland erzählt wird. Sie erlebt eine beklemmende Flucht aus dem Umkreis der Katastrophe. Eine schwer verkraftbare Passage schildert, wie das strahlenkranke Mädchen in einem Rapsfeld ihren kleinen Bruder Uli beerdigt. Lakonisch, realistisch sind die Details der Geschichte, mit uneinsichtigen Erwachsenen und Kindern, die anzuklagen haben.

Ähnlich konsequent hat eine Generation zuvor der Österreicher Karl Bruckner in seinem Roman „Sadako will leben“ (1961) den Tod geschildert. In seinem Buch ging es allerdings um die Folgen des Atombombenabwurfes der USA über der japanischen Industriestadt Hiroshima 1945.

Die Sorglosigkeit im Umgang mit den Risken der Atomkraft erklärte sich Pausewang diese Woche im Gespräch mit „Deutschlandradio“ folgendermaßen: „Der Mensch ist so geartet, dass er Unangenehmes und Unbequemes gern verdrängt.“ Zudem sei er anfällig für das Anhäufen von materiellen Gütern, von Geld: „Und das spielt dabei natürlich auch eine Rolle.“ In der „FAZ“ beklagte die Autorin zudem die Politikmüdigkeit von heute. Sie sei gegenüber den Verlautbarungen ihrer Regierung „zutiefst misstrauisch“.

Skeptisch ist auch Wolf im Interview mit dem Wochenblatt „Die Zeit“ (Ausgabe 17. März). Fassungslos und zornig ist sie, mehr noch als 1986: „Damals geschah, was keiner erwartet hatte. Diesmal musste man eine Katastrophe für möglich halten. Und trotzdem ist man auf die Bilder nicht vorbereitet.“ Sie kritisiert das noch immer gültige Ziel des Wachstums der Industriestaaten. „Jetzt haben wir uns endgültig in dem Widerspruch verfangen: Je bequemer wir leben, auch durch die massenhafte Herstellung zum Teil überflüssiger Industriewaren, desto näher kommen wir einer Zerstörung unserer Welt“, sagt Wolf: „Die Utopien unserer Zeit treiben Monstren hervor.“


Verlorene Unschuld. „Störfall“, diese elegische Prosa, die das Schicksal vom schwer kranken Bruder der Erzählerin mit der Katastrophe in der Ukraine verbindet, zeigt die zersetzende Wirkung von Tschernobyl. Wer kann danach noch naiv mit Goethe sagen „Wie herrlich leuchtet mir die Natur!“? Gedichtzeilen wie „Oh Himmel, strahlender Azur“ geraten unter Generalverdacht, so wie das schöne Wort „Wolke“. Die Technik aber, die diese Unschuld raubt, kann nicht nur zerstörerisch sein, sondern auch heilend, wie beim Bruder, der vor einer Gehirnoperation steht. Mit wild wuchernden Assoziationen werden diese beiden Themenkreise verbunden.


Der blinde Fleck. Die Fantasien der Erzählerin scheinen zwanghaft zu sein. Das ist ihr offenbar auch bewusst: „Ich habe mir gewünscht, mein Vorstellungsvermögen abstellen zu können. Diejenigen, die die Gefahren über uns und sich heraufbeschwören, habe ich gedacht, müssen diese Fähigkeit doch besitzen. Oder brauchen sie nichts abzustellen; haben sie, anstelle jener Ahnungen, die uns andere verfolgen, in ihrem Gehirn einen blinden Fleck?“ Bei Wolf hingegen ist das Visionäre ausgeprägt. Sie schließt mit dem Satz: „Wie schwer, Bruder, würde es sein, von dieser Erde Abschied zu nehmen.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.03.2011)

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