"Ein Territorium, das vor Blut triefte"

(c) Mirjam Reither
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Der amerikanische Historiker Timothy Snyder über die unterschiedliche Motivation der nationalsozialistischen und der stalinistischen Tötungsmaschinerien.

Er selbst wäre wohl nicht besonders glücklich damit, aber man könnte Timothy Snyder getrost als Starhistoriker bezeichnen. Sein neues Buch „Bloodlands“, in der er das politische Morden in den von Nazis und Sowjets besetzten Gebieten rekonstruiert, wird derzeit in 20 Sprachen übersetzt. Vor Kurzem ist es im C.H.Beck Verlag auf Deutsch erschienen.

Der 41-Jährige, Permanent Fellow des Wiener Instituts für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) und noch bis Anfang August in Wien, unterhielt sich mit der „Presse am Sonntag“ über die politische Gewalt, die über diese osteuropäischen „Bloodlands“ hereinbrach.

Warum haben Sie Ihr Buch „Bloodlands“ genannt?

Timothy Snyder: Es gab ein bestimmtes Territorium, das vor Blut triefte, weil Sowjets und Deutsche dort zwischen den Jahren 1933 und 1945 insgesamt 14 Millionen Zivilisten töteten. Ich wollte eine Geschichte dieses Gebiets schreiben, das die heutige Ukraine, Weißrussland, das Baltikum, Teile Polens und Russlands umfasst.

Sind Sie im Zuge Ihrer Forschung auf Fälle gestoßen, in denen die Tötungsmaschinerien der Nazis und Sowjets zusammenarbeiteten?

Ja und nein. Es gab sehr selten eine direkte Zusammenarbeit, auch wenig gegenseitiges Lernen. Aber es gab eine tödliche Interaktion: Die Nazis wollten Osteuropa als Agrarland kolonisieren, die Sowjets die Landwirtschaft kollektivieren und Industrien aufbauen. Diese Programme unterscheiden sich in ihrer Idee, aber sie betreffen dasselbe Territorium und überlagern sich insbesondere in der Ukraine. Deshalb starben dort zwischen 1933 bis 1945 mehr Menschen als irgendwo anders auf der Welt.

Zweitens erlaubte die militärische Zusammenarbeit nach dem Hitler-Stalin-Pakt den Deutschen zwischen 1939 und 1941 erstmals, in derselben Größenordnung wie die Sowjets zu töten. In den 1930ern töteten die Sowjets schon Hunderttausende oder sogar Millionen, während die Deutschen erst Hunderte und Tausende umbrachten.

Und ein dritter Punkt: Nach 1941 provozierten Sowjets und Deutsche einander zu Morden an Zivilisten. Die Sowjets regten den Warschauer Aufstand an, den die Deutschen dann mit massivem Mord beantworteten. Die Deutschen nahmen Millionen Sowjetbürger als Kriegsgefangene – einer der Gründe dafür war, dass Stalin seinen Generälen den Rückzug nicht erlaubt hatte.

Antisemitismus und Rassismus waren die treibenden Kräfte der deutschen Tötungsmaschine. Was trieb die Sowjets an?

Die Sowjets töteten, weil sie das eigene Land transformieren wollten – sie wollten sich selbst kolonisieren. Das lief nicht immer wie geplant, und dann beschuldigte Stalin bestimmte Bevölkerungsgruppen des Verrats. Das Nazi-System wollte andere Menschen kolonisieren. Man wollte eine Agrarkolonie im Osten Europas aufbauen, in der die Deutschen sich fortpflanzen konnten. Antisemitismus war zentral in dieser Ideologie: Er bot eine Lösung für alle Probleme, einen Grund für die Zerstörung der Sowjetunion. Die Sowjets töteten zu Hause und in Friedenszeiten. Die Deutschen im Ausland und in Kriegszeiten.

Das sind praktische Fragen, nicht so sehr ideologische.

Das ist eine Konsequenz der Ideologie. Wenn man ein Imperium gründen will, dessen Grundidee die Vernichtung der Juden ist, dann muss man andere Länder erobern. In Deutschland konnte man nicht so viele Juden töten. Die Sowjetideologie besagte wiederum: Wir werden Fortschritt und Sozialismus durch Opferbereitschaft erreichen.

Eine abstraktere Rechtfertigung von Mord.

Ja, so ist es.

Erleichterte sie das Töten?

Lassen Sie mich die Frage indirekt beantworten: Die Deutschen hatten ein Problem, das die Sowjets nie hatten. Die Nazis wussten nicht, wie man Massenerschießungen organisieren sollte. Die Sowjets hatten einige gut ausgebildete NKWD-Leute, die das übernahmen. Der „Große Terror“ forderte 700.000 Menschenleben, und nur ein paar Menschen schossen. Bei den deutschen Massenerschießungen der Juden schossen Tausende, Deutsche und lokale Handlanger. Die Sowjets hatten einen besser organisierten Tötungsapparat.

Die Deutschen hatten sich hingegen in diese Lage hineingeritten. Der Krieg im Osten schuf Situationen, in denen die Massenerschießungen aus ihrer Sicht nötig wurden. So konnte Himmler Hitler zeigen, dass eine Endlösung durch Töten möglich war.

In der Sowjetunion war das nicht der Fall – die Sowjetunion als Entwicklungsprojekt hatte die Massenerschießungen hervorgebracht. Ob es das einfacher macht oder nicht, ist schwer zu sagen. Die Motivation war eine andere.

Wurden die Anführer der sowjetischen Massenerschießungen jemals zur Verantwortung gezogen?

Der große Unterschied ist: Die Deutschen haben den Krieg verloren, die Sowjets waren die Sieger. Was noch am ehesten in die Nähe kommt, ist Chruschtschows Rede von 1956, in der er ein paar Fehler Stalins zugibt – Säuberungen von Mitgliedern der Kommunistischen Partei. Es ging dabei aber nicht um die Massenverbrechen. Dieser Umstand führt uns zu dem Missverständnis, dass die Ereignisse in den 1930ern nur politische Säuberungen waren. Es handelt sich vor allem um Massensterben und Massenerschießungen.

Seit den 1990ern hätte es Gelegenheit für Aufarbeitungsversuche gegeben.

Nicht so sehr in Russland als Nachfolgestaat der Sowjetunion. Aber in der Ukraine und im Baltikum gab es schon Versuche in diese Richtung.

Ist es als Historiker eigentlich einfacher, die Verbrechen der Nazis zu recherchieren?

Es gibt eine längere Tradition der Dokumentation über die Nazi-Verbrechen. Andererseits: Die Deutschen zerstörten Beweise, sie versuchten, ihre eigenen Dokumente zu vernichten. Die Sowjets taten so etwas nicht. Sie vertrauten darauf, dass die Geschichte ihnen wohlgesonnen war, und legten Akten ab. Seit 1989 und 1991 haben wir Zugang zu den sowjetischen Dokumenten. Sie sind sehr oft präziser als deutsche Dokumente. Die Handlanger erhielten eine Quote aus Moskau und retournierten die Erfüllung der Quote. Außerdem haben uns die sowjetischen Akten bei der weiteren Erforschung des Holocaust geholfen.

Aber kann man den sowjetischen Zahlen tatsächlich trauen?

Man muss immer vorsichtig sein. Aber ohne Zahlen kann man als Historiker nicht arbeiten. Zahlen entsprechen individuellen Menschenleben. Daher ist es wichtig zu wissen, ob in Katyn 21.892 oder 21.893 Menschen starben. Der Unterschied zwischen zwei und drei ist eine Person – und die zählt für mich. Generell muss man aber sagen, dass kolportierte Zahlen meist dreimal so hoch sind wie in der Realität.

Wie lautet denn Ihre Schätzung für die Hungertoten in der Sowjetukraine in den 1920er-Jahren?

Meine Schätzung liegt bei 3,3 Millionen. Da kann man nicht präzise sein, denn es gibt keine systematische Zählung der Toten. Die meisten Historiker rechnen mit 2,5 bis 4,5 Millionen Menschen. Es gibt natürlich politisch motivierte höhere Zahlen. Bei der Zahl der ukrainischen Hungertoten bin ich nicht ganz so sicher wie bei den 21.892 Opfern von Katyn. Aber ich wäre erstaunt, wenn die Abweichung mehr betrüge als zehn Prozent.

Inwieweit war die Hungersnot geplant?

Stalin hatte ursprünglich nicht geplant, die Ukrainer an Hunger sterben zu lassen. Aber er ließ die Ukrainer dann willentlich sterben. Er wollte das Land durch Kollektivierung industrialisieren. Das führte zur Hungersnot in der Ukraine, in Südrussland, Kasachstan. 1932 unternahm er absichtlich Schritte, um sicherzugehen, dass die Sowjetukraine hungern müsse. Die Hungersnot in der Ukraine hätte nicht passieren müssen. Aber er ließ weiter Lebensmittel aus der Ukraine exportieren, und die Menschen durften nicht ausreisen, die lokalen Behörden nahmen der Bevölkerung die Nutztiere weg. Darin unterscheidet sich der Stalinismus vom Nationalsozialismus, bei dem es den klaren Plan gab, Juden zu vernichten. Aber als die Dinge nicht so liefen wie Stalin wollte, war weder er noch der Plan schuld – schuld waren die Ukrainer. Und sie mussten dafür bezahlen. In dieser Weise war der Hungertod „beabsichtigt“.

Sie beschreiben in Ihrem Buch auch das Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen. Wie viele Opfer gab es?

Die Deutschen töteten 3,1 Millionen sowjetische Kriegsgefangene. Die meisten starben den Hungertod, einige Hunderttausend wurden erschossen. Das ist ein riesiges Verbrechen. Es fand in den östlichen Teilen des besetzten Polen statt, in Weißrussland und der Ukraine. Die Gefangenen wurden dorthin in Lager gebracht, das war mit Stacheldraht umzäuntes Land mit einem Wachturm, und man ließ sie verhungern. Eigentlich wollten die Nazis ja zehnmal so viele Menschen verhungern lassen, im Winter von 1941.

Warum ist das Schicksal der Kriegsgefangenen in der Öffentlichkeit so wenig präsent?

Geschichte wird meist aus nationalen Gesichtspunkten geschrieben – dieses Prinzip wollte ich mit „Bloodlands“ durchbrechen. Die sowjetischen Kriegsgefangenen waren Angehörige verschiedener Nationen. Niemand hat ihre Geschichte als „die seine“ wahrgenommen. Außerdem konnten diese Menschen nicht Teil des sowjetischen Opfermythos werden, denn in Stalins Augen waren sie Verräter.

Sie schreiben, dass das deutsche KZ als schlimmstes Element des Nationalsozialismus eine „Illusion“ sei, ein „dunkles Trugbild über einer unbekannten Wüste“. Wie kommen Sie zu dieser Aussage?

Die meisten Menschen, die getötet wurden, Juden und Nichtjuden, haben nie ein Konzentrationslager gesehen. Sie wurden einfach ermordet. Auschwitz verwischt den Unterschied zwischen KZs und Massenmord, weil es untypischerweise eine Vernichtungseinrichtung und ein Konzentrationslager war. Heute erinnern wir uns paradoxerweise an Auschwitz deshalb, weil es zehntausende Überlebende des KZs gab. Aber das war nicht typisch. Typisch waren Vernichtungslager wie Treblinka, Chełmno, Sobibor. Wir haben weniger Erinnerung an sie, weil dort massenhaft vernichtet wurde und kaum jemand überlebte. Außerdem wurden 2,5 Millionen osteuropäische Juden erschossen, oft in der Nähe ihres Wohnortes. Ein Konzentrationslager wie Auschwitz erzählt nichts über diese Erfahrung. Sogar wenn wir Auschwitz verstünden, was wir nicht tun, würden wir den Holocaust noch nicht in seiner ganzen Bedeutung verstehen.

Was ist präsenter in der kollektiven Erinnerung in der Ukraine oder in Weißrussland – Nazi-Terror oder Sowjet-Terror?

Schwer zu sagen. Viele Leute hatten gehofft, dass die deutsche Besatzung nicht so schlimm sein würde wie der Stalinismus – und dann mussten sie ihre Meinung wieder ändern. Denn die Deutschen waren ungemein brutal. Sie töteten in der Öffentlichkeit, das hatten die Sowjets nie gemacht. Die jüngere Generation erinnert sich freilich nur an die Sowjets. Aber das ist eine andere Geschichte.

Wie konnte die Erinnerung an den Sowjet-Terror in den betroffenen Ländern überhaupt bewahrt werden?

Allein der Umstand, dass die Sowjets alle ihre Verbrechen so genau dokumentierten, bedeutete, dass es immer eine bürokratische Erinnerung, wenn auch versteckt in den Archiven, gab. In den Familien war die Erinnerung häufig sehr vage. Man wusste ja oft nicht, was mit den eigenen Familienangehörigen wirklich passiert war. Russische Dissidenten oder Organisationen wie „Memorial“, die versuchen, Dokumente zu sammeln und die Erinnerung zu bewahren, haben Großartiges geleistet.

Timothy Snyder
„Bloodlands.

Europa zwischen Hitler und Stalin“

C.H. Beck Verlag

523Seiten

30,80Euro

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.07.2011)

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