Umberto Eco: "Die Wahrheit erscheint uns oft zu simpel"

Umberto Wahrheit erscheint simpel
Umberto Wahrheit erscheint simpel(c) Die Presse (Clemens Fabry)
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Der Semiotiker und Schriftsteller spricht im Interview mit der "Presse am Sonntag" über Fälschungen und Komplotte - und darüber, dass das Hässliche universeller ist als das Schöne.

Ihr Buch handelt von einem Mann, der den Fall Dreyfus ins Rollen bringt und die „Protokolle der Weisen von Zion“ fälscht. Es heißt, Sie sammeln auch Fälschungen?

Umberto Eco: Fälschungen haben mich immer schon interessiert – als typisch menschliche Möglichkeit. Fälschungen haben Geschichte gemacht, sie haben den Lauf der Welt mitbestimmt: Man denke an die konstantinischen Schenkungen oder das Corpus hermeticum – oder eben auch an die „Protokolle der Weisen von Zion“, die eine Verschwörung der Juden behaupten. Die Protokolle sind eigentlich für jeden ganz offensichtlich gefälscht! Es ist ein Text, der sich permanent selbst widerspricht, der auf der einen Seite das eine, auf der nächsten Seite das Gegenteil sagt, weil er aus unterschiedlichen Quellen zusammengestückelt ist – wie Frankensteins Monster! Da gibt es eine Novelle von Hermann Goedsche, die in den Protokollen behandelt wird, als sei sie ein Dokument, „Die „Gespräche in der Unterwelt“ von Joly, Sues „Les Mystères du peuple“. Die Protokolle hätten also in ihrer Widersprüchlichkeit sofort entlarvt werden müssen. Wurden sie aber nicht! Erst 1921 war es soweit – aber der Effekt war eher, dass die Menschen noch mehr daran geglaubt haben. Und sie tun es bis heute.

Sue, Goedsche, Joly – sie alle kommen in Ihrem Roman vor. Und auch ein Doktor „Froïde“ aus Wien.

Für alle Charaktere in meinem Buch gibt es Vorbilder. Nur die Figur des Simonini habe ich erfunden. Wobei ich mich auch hier der Geschichte bedient habe: Im 19.Jahrhundert gab es verschiedene Arten von Fälschungen. Ich habe diese Fälschungen einem einzigen Charakter zugeschrieben. In diesen Sinn ist auch Simonini „wahr“.

Sie schreiben: Damit etwas als wahr betrachtet wird, muss man nur wiederholen, was der andere schon einmal gehört hat.

Das Buch ist letzten Oktober auf Italienisch erschienen. Und wenige Wochen darauf war die Sache mit WikiLeaks – und jeder konnte angebliche Geheiminformationen nachlesen. Das waren ausnahmslos Informationen, die man eine Woche vorher auf Newsweek gehört hatte! Wir nehmen an, dass etwas wahr ist, weil es immer wieder gesagt wird. Dass Bin Laden ein schrecklicher Mensch war, würden wir jederzeit glauben. Dass er ein guter Kumpel war und jeden Abend mit den Enkelkindern gespielt hat, schon weniger.

Die „Protokolle“ handeln von einem Komplott.

Von einer Weltverschwörungstheorie. Dazu möchte ich sagen: Natürlich gibt es reale Komplotte. Etwa das gegen Julius Cäsar. Oder die Zerstörung der Twin Towers. Aber in meinem Buch geht es nicht um ein einfaches Komplott, sondern um die Paranoia vor der Weltverschwörung, laut der alles, was in der Welt geschieht, irgendeiner geheimnisvollen Kraft zuzuschreiben ist, auf die wir keinen Einfluss haben. Es ist eine Paranoia, die verhindert, dass wir Verantwortung übernehmen.

Das Internet ist voll davon!

Demnach war nicht Bin Laden für den 11.September verantwortlich, sondern George Bush oder der Mossad. Genauso, wie viele nicht glauben können, dass die Amerikaner auf dem Mond gewesen sind. Ich denke, diesen Verschwörungstheorien liegt die Weigerung zugrunde, einfache Erklärungen zu akzeptieren. Das muss komplizierter sein. Da muss mehr dahinterstecken! Aber das Leben ist nicht so raffiniert. Es gab Terroranschläge in Italien, da vermutete man, ein mysteriöser alter Mann wäre der Drahtzieher. Männer um die 30 könnten das nicht allein geschafft haben. Man hat ganz vergessen, dass 30-Jährige Banken leiten, riesige Firmen managen, natürlich können die auch solche Anschläge planen! Aber das war zu einfach.

Die Wahrheit ist oft einfach. Zur Lüge gehört Raffinement.

Tiere etwa können nichts vorspielen. Für einen Hund, der etwas erschnüffelt, erzählt der Geruch die Wahrheit. Manchmal wechseln Tiere die Farbe, stellen sich tot. Aber das ist nicht intentional. Das sind biologische Tricks! Ich glaube nicht, dass ein Tier, bevor es ein Stück Blatt imitiert, denkt: Und jetzt schaue ich aus wie Laub. Nein: Es hat die Möglichkeit, und es ergreift sie, um zu überleben.

In diesem Sinne ist die Evolution schlauer als das einzelne Wesen. Denken Sie da an eine Art „Intelligent Design“?

Nein, Intelligent Design gibt es nur a posteriori. Nicht: Weil ich existiere und weil ich schön bin, muss es eine Art von Intelligent Design geben. Sondern: Weil ich existiere, kann ich denken, dass ich schön bin und dass es ein Intelligent Design geben muss. Man könnte natürlich auch vermuten, die Menschheit in ihrem Elend sei Produkt eines dummen Designs. Das ist eine alte philosophische und religiöse Idee, dass nur ein dummer Demiurg eine so schreckliche Welt erschaffen haben kann.

Eine Welt, in der ein Simonini vorstellbar ist.

Simonini hat keine Moral. Ich kenne viele Menschen, die keine Moral haben und die für Geld alles tun würden. Das Buch liefert eine Art Erklärung, indem ich beschreibe, wie er aufgewachsen ist. Vielleicht hätte ich da mehr ins Detail gehen sollen.

Aber wie erklärt man das Böse, ohne es zu entschuldigen?

Das Problem mit dem Bösen ist: Es ist schrecklich, wenn du an Gott glaubst. Wie willst du die Existenz des Bösen erklären, ohne Gott dafür verantwortlich zu machen? Es gibt eine alte gnostische These, dass das Böse in der Seele Gottes selbst beheimatet ist. Wenn Gott das Böse nicht dulden kann, muss es Teil von ihm selbst sein. Die polytheistischen Religionen hatten es in dieser Hinsicht leichter: Da gibt es Götter mit guten und schlechten Charaktereigenschaften. Das Problem wurde erst im Monotheismus schlagend.

Der Psychologe Stephen Pinker hat jüngst die These vertreten, die Menschheit würde immer friedfertiger.

Wir sind sieben Milliarden Menschen, der Prozentsatz jener, die gewaltsam zu Tode kommen, ist gering, vergleicht man ihn mit jener Zeit, als nur 20Millionen auf dieser Welt gelebt haben. Das waren schreckliche Massaker, blutige Schlachten. Wir sind schockiert über die Toten im Irak. Die Zigtausend Toten von Waterloo dagegen – das wurde hingenommen. Im Krieg ist man eben gestorben. Ich denke, die Idee der Aufklärung setzt sich durch. Warum haben Leute aufgehört zu rauchen? Man hat es ihnen erklärt, und Schritt für Schritt haben sie es akzeptiert. In Italien gibt es eine Kampagne dagegen, dass Menschen Hunde aussetzen. Die Zahl der ausgesetzten Hunde ist zurückgegangen. Manches funktioniert. Nicht alles, natürlich. Aber: Voltaire hat einen Teil seines Geldes in Sklaven „angelegt“. Das waren für ihn keine Menschen. Heute würde ein Philosoph nicht einmal in Nestlé investieren.

Simonini ereifert sich über die Hässlichkeit der Juden und darüber, wie abstoßend Frauen sind. Sie haben auch ein Buch über das Hässliche geschrieben. Reden wir über das Hässliche?

Das Buch über die Hässlichkeit ist zufällig entstanden: Zuerst haben wir einen Band über Schönheit veröffentlicht, der hat sich hervorragend verkauft! Also hat mein Verleger gemeint: Machen wir noch so ein ähnliches Buch! Das Problem ist: Der Band zeigt die Hässlichkeit, wie sie von Künstlern empfunden wird. Im ganzen Buch findet man eine einzige Abbildung, die keine Kunst zeigt: Es ist das Foto des hässlichsten Hundes der Welt. Statt das Hässliche zu zeigen, haben wir also gezeigt, welche Konzepte des Hässlichen es gibt und welche Kraft die Kunst hat. Es ist ein Buch über die Schönheit des Hässlichen geworden. Wobei ich einen Verdacht habe: Dass das Konzept der Hässlichkeit universeller ist als das Konzept der Schönheit. Was wir als schön empfinden, wandelt sich – oder wie Xenophanes meinte: Hätten Pferde Götter, würden diese Götter aussehen wie Pferde. Um in der Gegenwart zu bleiben. Der eine mag Riesenbrüste, der andere kann große Brüste nicht leiden. Dagegen gibt es eine Art Gemeingültigkeit des Hässlichen, etwa in der Weise, wie wir Ekel zeigen. Es gibt Dinge, die fast jeder schrecklich findet. Schlangen etwa, Maden.

Ein Buch über das Schöne, eines über das Hässliche, eines über das Böse. Was kommt als nächstes?

Vielleicht steht in meinem nächsten Buch ein engelhafter Charakter im Mittelpunkt?

Ein Witz.

Im Moment noch ein Witz. Aber Sie haben mich auf eine Idee gebracht.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.10.2011)

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