H.-E. Richter war „der gute Mensch von Gießen“

(c) EPA (MICHAEL HANSCHKE)
  • Drucken

Psychoanalytiker, Philosoph und wortgewaltige Einmischer in die Politik ist im Alter von 88 Jahren nach kurzer schwerer Krankheit gestorben. Horst-Eberhard Richter saß zwischen allen Stühlen und mischte überall mit.

Für die Mediziner war ich nur noch ein halber Arzt, für die Psychoanalytiker eher ein psychoanalytisch trainierter Sozialarbeiter, für die wissenschaftliche Community schon fast ein Politiker und für die Politiker umgekehrt ein politisch dilettierender Wissenschaftler.“ So beschrieb der studierte Arzt und Philosoph und gelernte Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter sich selbst, er saß zwischen allen Stühlen und mischte überall mit. Mit Sachkunde und Wortgewalt eilte er ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Deutschland von Front zu Front, Grüne Bewegung, Friedensbewegung, auch bei Attac war er wieder dabei.

Begonnen hatte alles an der wirklichen Front. Mit 18 Jahren war der 1923 in Berlin Geborene als Soldat in Russland, er hielt nicht aus, was er anrichtete, und beschloss, sich „aufzuspalten“, nach außen seinen blutigen Dienst zu tun, aber sich im Inneren als Philosoph rein zu halten. Es misslang, nach einiger Zeit konnte er sich vor Schmerz im halben Körper nicht mehr rühren. Er wurde geheilt und lernte, dass statt der Aufspaltung der eigenen Person nur die Auseinandersetzung mit der Umwelt zu Gesundheit führt, körperlicher wie psychischer.

Therapie der Familie und der Gesellschaft

Diese Umwelt war zunächst die engere, die der Familie: Richter war einer der Pioniere der Familientherapie in Deutschland, 1962 fasste er seine Erfahrungen im Buch „Eltern, Kind, Neurose“ zusammen. Das verstaubte in den Regalen, erst in den Siebzigerjahren wurde es breit entdeckt: Es ging darum, dass unbearbeitete psychische Konflikte von Generation zu Generation weitergegeben werden, in dem Eltern sie – bzw. ihre erwünschte Lösung – in ihre Kinder projizieren.

Viele erkannten sich darin wieder, auch in den Aufstufungen, die Richter Schritt um Schritt vornahm: Von der Familie ging er zur Gruppe – in den 70ern mit WGs, Kinderläden etc. die große Hoffnung auf geglücktes Leben –, von der Gruppe auf die Gesellschaft. Und das alles nicht nur auf dem Papier, er arbeitete mit Obdachlosen, er stand hinter der Psychiatrie-Reform in Deutschland. So drehte und erweiterte er die Psychoanalyse, die ihre Patienten wieder zum Funktionieren bringt, in eine aktiv eingreifende Sozialpsychologie: Widersetzlichkeit („selbst mit querulatorischem Fanatismus“) sei gesünder als „symptomfreies Mitlaufen“.

Er lebte es vor, wurde Sprachrohr der Friedensbewegung, auch einer der härtesten Kritiker etwa des Irak-Kriegs, hinter dem er wieder Projektionen sah, diesmal paranoide des US-Präsidenten Bush bzw. der ganzen USA bzw. der Menschheit insgesamt, die ihren schwindenden Glauben an Gott durch das Vertrauen in die eigene Allmacht – die der Technik und der Waffen – ersetzt hatte (das entfaltete er in seinem philosophischen Hauptwerk „Der Gotteskomplex“ 1979).

All das sorgte dafür, dass Richter im eigenen Land als „guter Mensch von Gießen“ galt – dort lebte er lange – und vom US-Magazin „Time“ zur „moralischen Institution Deutschlands“ erhoben wurde. Nicht alle stimmten zu, Richter hat bisweilen auch seine Freunde irritiert, nicht nur seine Gegner. Nun ist er verstummt, er starb nach kurzer schwerer Krankheit in Gießen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.12.2011)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.