Franz Kafka fluchte: "Verdammte, elende Post!"

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Die Post will mancherorts auf dem Land nicht mehr täglich zustellen. Vor 100 Jahren kam der Briefträger in Berlin achtmal am Tag. Aber schon in diesen goldenen Zeiten schimpften viele über die Post.

Ist die Entscheidung, vielen Österreichern nicht mehr jeden Wochentag die Post zuzustellen, unzumutbar? Alles ist relativ. Neun Jahre lang musste Kirchenvater Augustinus einmal auf einen Brief warten. Und im bayerischen Röttingen kam vor ein paar Wochen eine Ansichtskarte aus Weyregg am Attersee an, die vor 21 Jahren abgeschickt worden war. Viermal so lang sogar brauchte eine Ansichtskarte aus dem Jahr 1926, um von Brüssel ins 50 Kilometer entfernte Opbrakel zu gelangen. Die Adressaten waren längst verstorben ebenso wie der Absender, ein junger Soldat, der auf der Karte seine Eltern um ein Hemd bat. Da ist das Wort Schneckenpost eine Beleidigung für die Schnecke, denn die hätte nur zwei Jahre gebraucht.

Ist Gemächlichkeit nun einmal die Mutter des Postkasterls? Allen Hochglanzprospekten der Post zum Trotz wird kein lebender Mensch mehr den auf Papier geschriebenen Brief mit Schnelligkeit assoziieren. Daran ist nicht erst das E-Mail schuld – deren erste Formen übrigens von den Nutzern „Snailmail“, „Schneckenpost“, genannt wurden, weil ihre Übermittlung über die privat betriebenen Computersysteme tagelang dauerte. (Bald freilich wurde der Ausdruck auf die „physische“ Post übertragen, die man, wie Karl Kraus sagte, aufgibt, wenn man sie aufgibt.) Schon vor hundert Jahren wusste jedes Kind aus seinen Bilderbüchern: Die Schnecke bringt den Waldtieren die Post. Ein Bild, das noch viel weiter zurückreicht, in die Zeit der Postkutschen. Wenn nicht Sturm oder Regen einen aufhielten, dann war es sicher ein gebrochenes Rad.

Die „petits bleus“ von Paris

Glaubt man dem Empfinden der Empfänger, wurden Briefe immer schon viel zu langsam zugestellt, auch als die Post noch um einiges schneller war als die heutige. Was machte eine Londoner Dame vor 150 Jahren, wenn sie vormittags jemanden zum Nachmittagstee einladen wollte? Sie benutzte das SMS des 19. Jahrhunderts – die Rohrpost.

Auch die Berliner Bürgersfamilien bei Theodor Fontane schickten einander so Kurznachrichten, Neuigkeiten und Liebesbotschaften, die mit etwas Glück schon eine halbe Stunde gelesen wurden. In Paris nannte man diese Briefchen, nach der Farbe des dort verwendeten Papiers, „petits bleus“, „kleine Blaue“. Kurt Tucholsky zufolge schrieben die Pariser sie auch in den 1920er-Jahren noch gern, und zwar „weil sie ein Telefon haben, aber sonst vernünftige Leute sind, es also nicht benutzen“.

Wien war nach London sogar die zweite Stadt mit Rohrpost. Von Druckluft angetrieben flitzten die zylinderförmigen Behälter mit bis zu 30 Stundenkilometern unter dem Straßenpflaster dahin wie damals auch schon die ersten Londoner U-Bahnen. In Windeseile konnten die Briefe so zum richtigen Postamt geschickt und dann verteilt werden. Franz Kafka schickte gern Nachrichten per Rohrpost, in Prag etwa für kurzfristige Verabredungen mit seinem Freund Max Brod, und in Wien, als er sich mit seiner Geliebten Milena Jesenská traf.

Aber auch Kafkas tägliche Briefe an Felice Bauer brauchten kaum länger als die acht Stunden, die damals ein Schnellzug von Prag nach Berlin benötigte. Wir sind künftig privilegiert, wenn der Briefträger fünfmal die Woche kommt. Vor hundert Jahren kam er in Prag zweimal am Tag, auch Samstag, und sonn- und feiertags immerhin einmal! Auf dem gewöhnlichen Postweg konnte Kafka, was Felice Bauer in Berlin am Nachmittag schrieb, schon am nächsten Vormittag in Händen halten – theoretisch.

Oft war es so und oft doch wieder nicht, dann war Kafka verzweifelt: wenn etwa der Brief, den Felice am Samstag geschrieben hatte, nicht mit der Sonntagsvormittagspost ankam und folglich erst am Montag; oder wenn ein Mittwochbrief erst Donnerstagnachmittag ins Büro kam, wenn er schon nach Hause gegangen war. „Meine arme Liebste, Du willst wissen, wann Deine Briefe ankommen, um Dich danach zu richten? Aber die Post ist ja ganz unberechenbar, gar die österreichische, sie arbeitet vollkommen improvisiert, so wie beiläufig die Juxpost bei Sommerunterhaltungen.“

Ein Ortsbrief in einer Stunde

So schlecht kann sie jedoch nicht gewesen sein, wenn Kafka anderswo zuversichtlich schreibt: „Silvester schrieb ich Dir einen Riesenbrief und warf ihn Neujahr Vormittag ein, den musstest Du also heute, am 2., um 9 Uhr bekommen. Außerdem schrieb ich Dir aber aus Freude über Deinen Brief am Neujahrstag Nachmittag noch einen und warf ihn gleich ein, den musstest Du heute um 10 Uhr bekommen.“ 9 Uhr Zustellung und eine Stunde später gleich wieder? Tatsächlich wurde in Berlin die Post ab 1880 elfmal, ab 1910 immerhin noch achtmal am Tag ausgetragen. Ein Ortsbrief konnte in einer Stunde seinen Empfänger erreichen.

Da verwundert es nicht, wenn viele Briefe vor über hundert Jahren in ihrer Spontaneität, ihrem Plauderton und ihrer schludrigen Unbekümmertheit an SMS, E-Mails oder Facebook-Einträge denken lassen. „In einer Gesellschaft, in der Minuten wenig und Sekunden überhaupt nichts bedeuten, konnte man sich durchaus einbilden, einen Brief noch ,warm‘ zu empfangen“, schreibt der Kafka-Biograf Reiner Stach.

Für fast alle privilegierteren Bewohner dieses Erdkreises ist es heute selbstverständlich, wenn das gerade Geschriebene vom Empfänger im nächsten Moment gelesen werden kann. Ein unglaublicher Fortschritt, und trotzdem hat sich nicht viel verändert. Wir können, wenn der Adressat eine Viertelstunde lang nicht auf sein Handy hört oder der Computerserver drei Minuten streikt, genauso ungeduldig werden wie seinerzeit Kafka. Mit dem Unterschied, dass es schwieriger geworden ist, jemanden dafür verantwortlich zu machen. Wie erleichternd war und ist es doch, mit Kafka fluchen zu können: „Verdammte, elende Post!“ Wir werden sie noch vermissen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.03.2012)

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