1440 Minuten in Jerusalem

„24h Jerusalem“
„24h Jerusalem“(c) Maurice Weiss/OSTKREUZ/zero on
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Nach Berlin realisierte Volker Heise die zweite 24-Stunden-Doku in der geteilten Stadt Jerusalem. Ein beinah unmögliches Unterfangen.

Wenn der kommende Samstag um ist, wird Volker Heise erst einmal aufräumen und Dinge ordnen, die in den letzten drei Jahren liegen geblieben sind. Denn am 12. April wird seine vielleicht aufwendigste Filmarbeit abgeschlossen sein: die 1440-Minuten-Doku „24h Jerusalem“ läuft an diesem Tag auf Arte, im Bayerischen Rundfunk und live im Internet. Nicht selten haben er und das Team der Produktionsfirma Zero One 24 in den vergangenen Jahren die Hoffnung aufgegeben, dass sie ihre Gigantendoku jemals auf Sendung bringen werden.

Dabei hatten sie schon Erfahrung mit einem solchen 24-Stunden-Stadtporträt. Am 5. September 2008 filmten 83 Kamerateams in der ehemals geteilten Stadt Berlin den Alltag von gut 500 Bewohnern, darunter auch von Bekannten wie Bürgermeister Klaus Wowereit und „Bild“-Chef Kai Diekmann – exakt ein Jahr später ging die Doku auf Sendung. Volker Heise wollte das Projekt zunächst nicht wiederholen, doch die Idee, dasselbe Vorhaben in Jerusalem umzusetzen, reizte ihn doch. Jerusalem, die Wiege der drei monotheistischen Religionen – des Christentums, des Islam und des Judentums – und seit Jahrzehnten Zentrum israelisch-palästinensischer Machtkämpfe, seit 2003 durch eine Mauer geteilt.


Boykott am ersten Drehtag.
Der erste Drehtag war für den 6. September 2012 angesetzt. Drei Wochen davor gab es erste Anzeichen, dass es einen Boykott von palästinensischer Seite geben würde – und tatsächlich mussten die Dreharbeiten abgeblasen werden. Die palästinensischen Behörden verweigerten ihre Zustimmung zur ihrer Meinung nach politisch fragwürdigen israelisch-palästinensischen Ko-Produktion. Dadurch würde etwa die israelischen Besetzung Jerusalems normalisiert werden. „Für die einen waren wir von vornherein Antisemiten, und die anderen dachten, wir machen ein zionistisches Projekt“, erzählt Volker Heise.

Das Team stand wieder bei null. Also zweiter Anlauf. Diesmal als rein europäisches Projekt, auch um die politische Spannung herauszunehmen und unabhängig zu bleiben. „Nun steckt wirklich nur Geld aus Europa, aus Deutschland und Frankreich drin.“ Genau genommen 2,5 Millionen Euro, was nach viel Geld klingt, doch Heise relativiert: „Das ist immer noch weniger als eine Folge ,Wetten, dass..?‘“

Schließlich kam je ein Drittel der sechzig Drehteams aus Europa, Israel und Palästina. „Die israelischen und palästinensischen Teams haben sich tatsächlich nie gesehen.“ Und siehe da: Der zweite Drehanlauf am 18. April 2013 klappte. Obwohl das Berliner Konzept ein wenig abgewandelt werden musste. So konnten nicht alle Drehs an diesem einen Tag stattfinden, weil es kleinere Schwierigkeiten mit Drehgenehmigungen gab.


Rabbi, Muezzin, Priester. Die Grundstruktur von „24h Jerusalem“ aber gleicht der des Berliner Vorgängerprojekts: Die Beiträge werden zu jeder halben und vollen Stunde mit Details zur Geschichte von Israel und Jerusalem aufgelockert. Die sechzig Drehteams (darunter auch die Israel-erfahrenen Regisseure Maria Schrader und Dani Levy) haben insgesamt 90 Menschen begleitet. Den Franziskaner-Priester ebenso wie den Muezzin aus Ostjerusalem, die Friedensaktivistin und die deutschsprachige orthodoxe Jüdin. Den Mann von der Müllabfuhr, die Familie im Flüchtlingslager, den französischen Pressefotografen und die russischstämmige Hebamme. Die Szenen im jüdisch-orthodoxen Viertel Mea Shearim hat ein orthodoxer Regisseur aufgezeichnet. So entsteht ein sehr realistisches Bild von dieser geteilten Stadt, in der 800.000 Menschen leben.

Daher müssen palästinensische Arbeiter jeden Morgen lange an den Checkpoints Schlange stehen, um auf die israelische Seite zu gelangen, wo sie in Hotels, auf Baustellen oder in Fabriken arbeiten. Bis zu zwei Stunden warten sie, um die Grenze zu passieren. In Mea Shearim hat Bäcker Guy zu diesem Zeitpunkt bereits einige Stunden Arbeit hinter sich, und die gebürtige Deutsche weckt ihre Tochter auf. So geht das immer weiter, 24 Stunden lang reiht sich Szene an Szene, die Protagonisten tauchen immer wieder auf, der Zuseher erkennt Gemeinsamkeiten und Unterschiede.

Im Vergleich zur Berlin-Doku vor fünf Jahren spielt das Internet diesmal eine viel wichtigere Rolle. So wird die Doku nicht nur via Livestream (und in drei Sprachen) im Internet ausgestrahlt, sie wird auch zwei Monate nach der Erstausstrahlung komplett im Netz abrufbar sein. Zusätzlich werden Regisseur Heise und seine Kollegen am Ausstrahlungstag Fragen beantworten. Bereits online ist Heises Videotagebuch mit Material zu Barack Obamas Besuch in der Stadt im März 2013 oder zur Karfreitagsprozession in der Altstadt.

Etwas anders ist auch die Bildsprache. „Wir mussten viel langsamer erzählen. Arabische Namen sind einfach nicht so einprägsam wie Gaby Müller aus Berlin.“ Die Protagonisten erzählen also mehr in die Kamera hinein, anstatt in bestimmten Alltagssituationen oder Gesprächen mit anderen beobachtet zu werden. Dabei wird Gesagtes von den Erzählern im Off nie bewertet oder interpretiert. Die Menschen erzählen – und das mitunter sehr offen, etwa wenn die orthodoxe Jüdin sagt, die Mauer müsse sein, „weil sie uns schützt“ und Palästinenser wütend über die Checkpoints und Israels Siedlungspolitik seien. Volker Heise ist nicht enttäuscht, dass die Doku nicht zur filmischen Friedensmission wurde. „Mir war klar, dass wir nicht auf eine Mission gehen werden. Ich habe mich eher gefragt, wie wir beide Seiten zum Sprechen bringen können.“ Das ist ihm gelungen.

24 Stunden & mehr

Die Lang-Doku „24h Jerusalem“ läuft am 12. April ab 6 Uhr früh 24 Stunden lang auf Arte, dem Bayerischen Rundfunk und live im Internet (in drei Sprachen: Deutsch, Englisch und Französisch) und ist danach zwei Monate online abrufbar.

Zusätzlich wird es einen Live-Chat mit dem Projektteam und u.a. Regisseur Volker Heise geben. Zusatzmaterial und mehr unter:www.24hjerusalem.tv/de
Die Dreharbeiten
fanden am und um den 18. April 2013 in Jerusalem und Umgebung statt. Dafür haben 60 Kamerateams und zehn Visual Teams rund 90 Protagonisten begleitet, darunter einen Rabbi, einen Priester, einen Muezzin, einen Rettungsfahrer, israelische Militäroffiziere und palästinensische Flüchtlinge. Die Arbeit an dem Projekt dauerte dreieinhalb Jahre. Die Kosten: 2,5 Millionen Euro.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.04.2014)

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