Der Problem-Report der „New York Times“

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NEW YORK TIMES(c) EPA (JUSTIN LANE)
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Beinahe zeitgleich mit der Absetzung von Jill Abramson wurde ein internes „New York Times“-Papier einem Konkurrenten zugespielt. Auf 100 Seiten zeigt es: Der Musterschüler hat große digitale Schwierigkeiten.

Es war die letzte gemeinsame Erklärung von Jill Abramson und ihrem Stellvertreter Dean Baquet. Als Anfang der Vorwoche die Kurzfassung des „Innovation Report“ nach außen und ausgerechnet in die Hände eines ihrer größten Kontrahenten, der Webseite „Buzzfeed“ gelang, musste die „New York Times“-Chefredaktion geschlossen reagieren und beschwichtigen. Das Ergebnis des Reports, den die „Welt“ spöttisch eine „Krankmeldung“ nennt, ist wenig erbaulich. Selbstkritisch erkennt die NYT darin, dass sie große Probleme im Digitalbereich hat: Den Führungskräften fehle die Zeit, an der Digitalstrategie zu feilen. Es werde zu viel Zeit und Ehrgeiz in die Erstellung der gedruckten Seite eins investiert anstatt sich zu überlegen, wie Inhalte digital präsentiert werden können. Die Kommunikation zwischen den Abteilungen – vor allem zwischen Redaktion und kaufmännischem Bereich – funktioniere nicht. Und die Digital- und Social-Media-Kompetenz der Redakteure sei gering.

Sogar das sonst nobel-zurückhaltende Nieman Journalism Lab der Harvard University konnte sich einen Kommentar nicht verkneifen: Während die NYT-Chefs in ihrer Aussendung die Botschaft vermittelten „Wir sind fast da, wo wir hinwollen“, klinge der Report eher so: „Diese Leute realisieren nicht, wie weit weg wir vom Ziel sind“.

Längst zirkuliert der komplette 100-seitige Report im Netz und wird seither auf Medienblogs und -seiten erregt analysiert. Das Papier ist für manche ein „historisches Dokument“ und ein „Schlüsseldokument unseres Medienzeitalters“. Die „Welt“ schreibt: „Journalisten sollten es unbedingt lesen“.

Sechs Monate, 200 Interviews

Ein achtköpfiges Team der NYT, darunter auch der Sohn von Eigentümer Arthur Sulzberger Jr., bekam sechs Monate Zeit, einen Befund der eigenen Digital-Fitness zu erstellen und sich mit Konkurrenten wie „Huffington Post“, „Buzzfeed“ und „Washington Post“ zu vergleichen. Über 200 Interviews mit Mitarbeitern und Konkurrenten wurden geführt. Die Diagnose ist ernüchternd – und muss sich dennoch aus der Warte vieler anderer Medien wie Jammern auf hohem Niveau anhören. So sollte man nicht vergessen, dass die NYT immer noch 1,25 Millionen Print- und 760.000 Digitalabonnenten hat, allein in den USA 30 Millionen Web-Leser pro Monat und 11,3 Millionen Twitter-Follower. Doch im Digitalgeschäft wurde die Zeitung längst von Konkurrenten wie „Huffington Post“ (80 Millionen Web-Leser pro Monat) oder „Buzzfeed“ (43,2 Prozent der Zugriffe kommen via Facebook, bei der „Times“ sind das nur 5,2) überholt. Ihr Angebot an die Online-Leser ist wenig zufriedenstellend.

Für die globale Medienbranche ist das Papier gleichermaßen ent- wie ermutigend. Denn es zeigt, dass auch der Vorzeigeschüler dieselben Probleme wie jedes andere Medienunternehmen hat. Doch es löst auch die Frage aus: Wenn es nicht einmal die „New York Times“ schafft, wer dann?

Rückblickend vermittelt der Report den Eindruck, es habe angesichts der Digital-Probleme doch genug inhaltliche Gründe für die Absetzung von Jill Abramson gegeben. Allein, die etwas dünne Erklärung von Sulzberger und die Berichte in der eigenen Zeitung beweisen, dass der Rauswurf ist, wonach er aussieht: Ergebnis eines Machtkampfs zwischen der Chefin und ihrem Vize.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.05.2014)

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