90 Jahre Gründlichkeit

Der Snob Eustace Tilley macht auf dem aktuellen Titelblatt von „The New Yorker“ eine Evolution von 1925 bis 2015 durch.
Der Snob Eustace Tilley macht auf dem aktuellen Titelblatt von „The New Yorker“ eine Evolution von 1925 bis 2015 durch. (c) The New Yorker
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Akribisch und einfallsreich ergründet "The New Yorker" den kosmopolitischen Lebensstil ebenso wie die ernsten Fragen der Zeit.

Hier hat John Updike seine erste Kurzgeschichte veröffentlicht und J. D. Salinger seine letzte. Hier hat Seymour Hersh die Folter im US-Militärgefängnis von Abu Ghraib im Irak enthüllt und Rachel Carson in ihrem seriell veröffentlichten Ökologiethriller „Silent Spring“ Amerikas Umweltbewegung gegründet. Ist Beethovens Genialität ein Fluch für die ernste Musik, weil kein Komponist ihm seither das Wasser reichen konnte? Werden Computer bald unsere Gefühle lesen? Was treibt Angela Merkel um?

Solches wird auf den Seiten des Wochenmagazins „The New Yorker“ ergründet. Hier geht man ad profundum, leuchtet jede Nuance eines Phänomens aus, bürstet herrschende Ansichten gegen den Strich, bis Schmuckstücke journalistischer Meisterschaft in dieser am 19. Februar 1925 erstmals veröffentlichten Auslage funkeln.

Fast hätte Raoul Fleischmann, der 1885 in Bad Ischl geborene Sohn einer altösterreichischen, nach Amerika ausgewanderten Bäckerdynastie, nach herben Anfangsverlusten die Reißleine gezogen. Doch er hielt durch, steckte viel Geld in dieses Magazin, das das metropolitane Zeitgeschehen des Jazz Age humorvoll bespiegeln sollte. 1928 schrieb „The New Yorker“ erstmals schwarze Zahlen, bis zu Fleischmanns Tod 1969 verlor er keinen Cent.

Kriege ließen das Magazin reifen und gesellten der ironischen Gesellschaftsschau Ernsthaftigkeit hinzu; ein Essay über den Atombombenabwurf auf Hiroshima füllte die gesamte Sommerausgabe 1946. Im neuen Freedom Tower im Süden Manhattans, wo bis zum 11. September 2001 das World Trade Center stand, hat die Redaktion nun am Busen des Eigentümers Condé Nast ihre neue Bleibe gefunden. Unter Chefredakteur David Remnick ist die Auflage seit 1998 um knapp ein Viertel auf über eine Million gestiegen, wo sie sich stabil hält. „Das Ziehen und Drängen, der Vorstoß und der Rückzug der Geschichte ist keiner Ära allein eigen, aber sie sind offenkundig bestimmend für diese“, schreibt Remnick in der Jubiläumsausgabe. Es gibt schlechtere Kompasse als „The New Yorker“, um sich in unserer Zeit zurechtzufinden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.02.2015)

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