Kampusch-Doku: Wie sich der Blick verändert

Natascha Kampusch am Montag 2150 auf ATV
Natascha Kampusch am Montag 2150 auf ATV(c) APA/Martin Moravek/ATV (Martin Moravek/ATV)
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Peter Reichard im Interview mit der "Presse am Sonntag". Er filmte als Erster im Haus von Natascha Kampuschs Entführer. Sie erzählte ihm ihre Geschichte - und rührte ihn zu Tränen.

Wie hat es Natascha Kampusch verkraftet, an den Ort zurückzukehren, an dem sie Wolfgang Priklopil jahrelang gefangen hielt und quälte?

Peter Reichard: Wir haben gedacht: Das muss der blanke Horror sein. Aber uns wurde klar, es ist ihr auch eine – aufgezwungene – Heimat gewesen in den Jahren. Frau Kampusch war sehr angespannt – sie konnte ja nicht sicher sein, wie wir reagieren. Sie dachte vielleicht: Die wissen, was mir angetan wurde, aber kann sich das verflüchtigen, wenn sie feststellen, dass es da keine Folterwerkzeuge gibt, aus denen man Brachialgewalt ableiten kann, sondern nur eine stinknormale Küche, ein stinknormales Wohnzimmer? Die Angst, es könne der Eindruck der Abscheulichkeit durch diese spießige Normalität verdrängt und alles missverstanden werden, hat sie belastet. Dabei hat uns diese Normalität fast noch mehr kaputt und traurig gemacht als das Verlies, das an Abscheulichkeit ja nicht zu toppen ist. Das hat uns den Atem genommen. Als Frau Kampusch das merkte, sagte sie: „Lassen Sie uns rausgehen.“ Meiner Frau sind ohne Vorwarnung die Tränen gekommen. Da hat sie ihre Hand genommen und gesagt: „Ich bin stark.“ Dann kamen auch mir die Tränen.

Was war so schrecklich?

Diese Jalousien... der hat diesem Kind erzählt, es wären überall Alarmanlagen, hat die Jalousien hinuntergelassen, dass nur diffuses Licht durch die Spalten kam – das hat etwas hitchcockhaft Düsteres. Frau Kampusch ist oft freiwillig in dieses elende, dreckige Verlies gegangen, um nicht vom Täter oben drangsaliert zu werden.

Warum hat Natascha Kampusch Ihnen und nicht einem der 400 anderen Interessenten gestattet, im Haus zu filmen?

Wir haben sie nicht gedrängt. Wir hatten das Versprechen der Behörden zu kooperieren, wenn sie damit einverstanden ist. Außerdem war ich jahrelang selbst bei der Kripo in Hamburg und habe in Entführungsfällen ermittelt. Später habe ich eine ZDF-Dokumentation gemacht über Jakob von Metzler. Einen kleinen Jungen, der entführt und umgebracht worden ist. Als ich Natascha Kampusch zum ersten Mal traf, wollte sie wissen: Was ist eigentlich aus Jakobs Familie geworden? Sie hat den Fall trotz der Überwachung durch Priklopil mitbekommen – wenn sie für ihn kochen oder bügeln musste, hat sie das mit einem Auge im Fernseher gesehen. Das hat sie bewegt, weil sie in der gleichen Situation war.

Wie waren die Interviews? Schwierig?

Jede Art von Verstellung deckt sie sofort auf. Wer achteinhalb Jahre darauf getrimmt war, kleinste Signale beim Entführer zu deuten, um zu überleben, dem kann man nichts vormachen. Für den Betrachter ist sie ein Mysterium. Mein erster Eindruck war: Das ist eine verschreckte junge Frau. Bei unserer Begegnung im Dezember 2008 war sie hingegen sehr aufgekratzt und eloquent. Wir waren überrascht, wie gut es ihr zu gehen schien – haben dann aber bei den Interviews erleben müssen, wie stark ihre Seele durch das Erlebte belastet ist. Sie ist nicht nur psychisch malträtiert worden, sie hat schimmelige Luft eingeatmet, hat ohne Sonne leben müssen, war dauernd unterernährt, weil sie mit Essensentzug an der Kette gehalten wurde. Solchen Grenzerfahrungen kann man sich nur mit Behutsamkeit und Respekt nähern.

Warum tut sich Frau Kampusch das an – alles öffentlich zu erzählen?

Ich glaube, sie wollte aus ihrer Sicht sagen, was war. Manchmal habe ich mich gefragt: Was machst du da? Bist du so wie die anderen, die sie nur ausweiden? Aber es war ihr eigener Wunsch. Ich glaube, das ist ein Stück Aufarbeitung für sie. Wir haben uns dann vor der Kamera unterhalten und irgendwann habe ich mich an das eigentliche Thema herangepirscht, da habe ich gemerkt, dass sich ihr Blick verändert. Sie hat dann nach innen gehorcht und diese ganzen grausamen Details aus sich herausgeholt – da hat sie mich angeschaut und doch nicht angesehen. Da habe ich gewusst, das tut jetzt weh, das sind die Verletzungsmomente. Danach haben wir eine Pause gemacht...

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.01.2010)

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