Licht an, Licht aus

Die neue Kampusch-Dokumentation von der ARD morgen auf ATV. Ein stiller, bedrückender Film.

„Er wollte nicht, dass ich weine, und hat mir mit dem Handrücken die Tränen ins Gesicht eingerieben.“ So hat man Natascha Kampusch noch nie gehört. „Weil er Angst hatte, dass seine Fliesen von der Salzsäure der Tränen angegriffen würden.“ Der Privatsender ATV zeigt morgen die erste öffentlich-rechtliche Dokumentation zum Fall Kampusch. Der NDR-Film stammt von Peter Reichard (s. Interview) und Alina Teodorescu. Der ORF wollte ihn nicht ausstrahlen: Er bestehe „größtenteils aus im ORF bereits gezeigten Bildern“ und sei „nicht hauptabendtauglich“.

Beides stimmt nicht. Das ORF-Material beschränkt sich auf einen Ausschnitt aus „XY Ungelöst“ und knapp 90 weitere Sekunden. Das Team um Reichard durfte erstmals im Tathaus drehen. Ein Erzähler ruft in Erinnerung, was Kampusch, ihre Mutter oder Priklopil-Freund Ernst H. nicht berichten. Ein Interviewer ist gar nicht präsent. Somit bleibt das Opfer im Fokus. Die Intensität der Bilder aus dem Verlies lässt einen schaudern. Dort ließ er sie hungern. Das Mädchen fraßen die Selbstzweifel: „Man kommt sich wie ein Drogensüchtiger vor: Wieso hab ich Hunger, wieso gibt's das Gefühl, wieso kann man nicht ohne Essen auskommen?“

Bedrückend stille Bilder, ein ruhiger Rhythmus zeugen von achteinhalb Jahren Gefangenschaft. Die Sekunden hat sie bis kurz nach der Entführung gezählt. Dann verlor sie das Gefühl dafür. „Meine Schuhe hat er in den ersten Tagen verbrannt. Ich bräuchte die gar nicht.“ Eine Zeitschaltuhr war es, die Kampuschs Tagesablauf – Licht an, Licht aus – strukturierte. Als würde das Haus immer noch von dieser Macht kontrolliert, geht in der Doku in statischen Einstellungen plötzlich eine Lampe an, beginnt unvermittelt die Jalousie, das Fenster zu verdunkeln.

„Dann dürfte er sich auf die Schienen gelegt haben. Dann ist der Zug über seinen Kopf gefahren. Dann war er tot“, sagt sie lapidar zu Prikopils Tod. Ob sie Opfer von Pornografie geworden sei, fragt niemand. Kurz reißt sie an: „Dazu hätte er die Zeit nicht gehabt. Aber man kann das nie wissen.“

„ATV Dokument: Natascha Kampusch – 3096 Tage Gefangenschaft“, Mo, 21 Uhr, ARD/21.50 Uhr, ATV

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.01.2010)

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