Wie man im Fernsehen zum Folterknecht wird

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Mit einer drastischen Doku will der Sender "France 2" die Gefahren des Reality-TV aufzeigen. Das Ergebnis ist erschreckend: Der Gehorsam in "Spiel des Todes" war höher als im vergleichbaren "Milgram-Experiment".

Wien/Paris. Wie eine Raumkapsel sieht das Gebilde aus, in das sich für den Kandidaten eine Klappe zum Einstieg öffnet. Von innen haben die Wände eher die Anmutung einer Gummizelle. Verzagt blickt der Kandidat zu der Frau im knallrosa Kleid empor, die ihn auf einen nicht gerade einladenden Stuhl schnallt. Nun gibt es kein Entkommen mehr – dafür für jede von ihm falsch beantwortete Frage einen Stromstoß.

Zumindest ist es das, was die Probanden, die dem Festgeschnallten von außen Fragen stellen und auf Drängen der Showmasterin für seine „Bestrafung“ sorgen müssen, bei der Aufzeichnung einer TV-Show für den Sender „France 2“ mit dem Titel „Gefahrenzone“ glauben sollen. Und tatsächlich: Schon bald windet sich der Kandidat wie unter Schmerzen, stöhnt auf, beginnt nach Luft zu japsen. Er macht das ziemlich überzeugend – denn er ist gelernter Schauspieler, und die im Lauf der Show angeblich bis auf 460 Volt gesteigerten Stromstöße, unter denen er zu leiden scheint, sind nur fiktiv. Doch das erfahren die 80 durchwegs willfährigen Probanden erst hinterher. Nachdem vier Fünftel von ihnen dem Kandidaten die maximale „Bestrafung“ zugefügt haben.

Gehorsamer als bei Milgram

Schon bevor „France 2“ am Mittwoch zur Hauptsendezeit Aufnahmen aus diesem Experiment im Rahmen der Dokumentation „Das Spiel des Todes“ ausstrahlte (im Rahmen des Projekts „Wie weit geht das Fernsehen?“), hatte es für Diskussionsstoff gesorgt. Die Grundidee ist alles andere als neu: Genauer gesagt ist sie 49 Jahre alt. 1961 untersuchte der US-Psychologe Stanley Milgram mit dieser Versuchsanordnung die Bereitschaft von Menschen, Befehlen zu gehorchen, auch wenn das schwere Verletzungen oder sogar den möglichen Tod eines Menschen zur Folge hat. Die Welt stand damals unter dem Eindruck des Eichmann-Prozesses in Jerusalem und der Frage: Wie konnten die Nazis so viele (willige) Vollstrecker finden?

Der Unterschied: Bei Milgram war die befehlende Autorität ein Wissenschaftler, beim „Spiel des Todes“ die Moderatorin. Und bei „France 2“ gab es ein – ebenfalls unwissendes – Publikum, das die Probanden noch dazu anfeuerte, ihrem Opfer die Stromstöße zu verpassen.

Milgram schockierte 1961 mit dem Resultate, dass 62 Prozent „gehorchten“ und bis zur Höchstspannung gingen. Beim „Spiel des Todes“ waren es 81 Prozent. Kein Proband verweigerte die Teilnahme, nachdem er die Regeln erfahren hatte. Nur neun brachen ab, nachdem das Opfer erstmals vor Schmerzen gestöhnt hatte, weitere sieben, nachdem es Ohnmacht vorgetäuscht hatte.

Die Macher des Dokumentarfilms zeigten sich vom Ausmaß, mit dem ihre Hypothese bestätigt wurde, schockiert: „Wir konnten uns nicht vorstellen, dass es so weit gehen könnte“, sagte Patricia Boutinard-Rouelle, die bei dem öffentlich-rechtlichen Sender für Dokus zuständig ist. Christophe Nick, Autor und Produzent der Sendung, wollte zeigen, wie sehr durch die Zurschaustellung von Brutalität und Erniedrigung im TV bereits „die tiefsten Tabus unserer Gesellschaft gefallen sind“. Um eine Show wie „Das Spiel des Todes“ realisieren zu können, brauche es vier Dinge, schreibt er auf der Internetseite des Senders: „Kandidaten, ein Publikum, einen Sender, der das ausstrahlen will, und Zuseher, die Lust haben, das zu sehen.“

Die Dokumentation werde zeigen, „dass diese Bedingungen heute vorhanden seien“. Das Fernsehen könne jeden dazu bringen, alles zu tun. Auch wenn diese Aussage stark zugespitzt ist: Dass das Fernsehen auf so drastische Weise vor der Macht des Fernsehens warnt, gibt es nicht alle Tage.

LEXIKON

Das „Milgram“-Experiment fand 1961 in New Haven (USA) statt: Man testete, wie weit Menschen Befehlen folgen. Per Knopfdruck gab die Versuchsperson dem „Opfer“ Stromschläge, wenn es Fragen falsch beantwortete; dieses war aber ein Schauspieler, der nur simulierte. Der Testleiter übte Druck auf die Testperson auf, trotz Schmerzensschreien des Opfers die Spannung zu erhöhen. Die Testpersonen gingen meist bis auf die maximale, lebensgefährliche Spannung von 450 Volt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.03.2010)

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