Die Sonnenstadt der Träume

Das ist Minsk: Breite Boulevards ohne Oligarchen-Karossen, an jeder Ecke ein Polizist. Ein alter Maler, der gern einen Kreml in der Stadt hätte. Eine schöne Bloggerin, die sich ein Pensionistendasein in Wien erdichtet. Und ein Universalkünstler, der die Stalin-Bauten vollenden will.

Das erste Mal spazierte ich vor acht Jahren durch Minsk, an einem milden Sommertag. Ich erinnere mich, die Stadt am Abend heiter und gelöst verlassen zu haben. Das hatte damit zu tun, dass ich mitten im Machtzentrum der „letzten Diktatur Europas“ in eine Demonstration geraten war.

Man drückte mir damals ein Flugblatt in die Hand. Auf dem Flugblatt verlangte eine Frau Aufklärung über den Verbleib ihres Gatten. Das Foto des verschwundenen Kameramanns zeigte einen schönen Mann mit engelsgleichem Blick. Die anschließende Demonstration war merkwürdig lautlos; kein Sprechchor und kein Megafon wurden gegen den Lärm des vorbeirauschenden Großstadtverkehrs gerichtet.

Schweigende Frauen hielten kleine, handgemalte Transparente hoch und schwarz-weiß kopierte Porträts von Verschwundenen. Die zahlreich herumstehenden Polizisten griffen nicht ein. Der Mut der höchstens 100 Demonstranten beeindruckte mich.

Acht Jahre später wandere ich wieder durch die Stadt, die ein Minsker Universalkünstler die „Sonnenstadt der Träume“ nennt. Der Hauptboulevard – zu Sowjetzeiten Lenin gewidmet, nun der Unabhängigkeit – erscheint mir noch leerer als damals. Die Verkaufstischchen und Getränkebuden, die 2002 noch die Weite auflockerten, sind inzwischen verboten. Das perfekt gepflasterte Trottoir ist breit, der nächste Passant weit, und jeder der klassizistischen Stuckbauten im Stalin-Empire-Stil ist so lang, dass man gegen ein Laufband anzurennen meint. Bald beginnen mir die Füße weh zu tun.

Alles Sowjet-Baustile. Und sonst nichts. Ich gehe durch eine 1,8-Millionen-Einwohner-Stadt, die von sämtlichen Baustilen der Sowjetunion geprägt wurde – und von sonst nichts. Verschwunden ist das katholische Minsk: Als die Stadt 1793 an Russland fiel, gab es 28 katholische und katholisch-unierte Kirchen und nur eine orthodoxe. Ausgelöscht ist das jüdische Minsk – noch vor 100 Jahren stellten Juden die Hälfte der Einwohner.

An den breiten Boulevards fallen mir zwei Unterschiede zu anderen postsowjetischen Hauptstädten auf: Es fehlen sündteure Oligarchen-Karossen. Und vor den Geschäften fehlen private Wachdienste, dafür steht an jeder Ecke Polizei. Deren Bekanntschaft ich im nächsten Moment mache, denn ich überquere den „Boulevard der Sieger“ zu Fuß und entgehe meiner Strafe nicht. Ich muss mir eine Unterweisung anhören, 30.000 Belarus-Rubel (rund acht Euro) zahlen, beim Ausfüllen mehrerer Formulare assistieren und fünf Mal unterschreiben. Die Sonne brennt auf das quadratkilometerweise hingepflasterte Trottoir. Das soll die Sonnenstadt der Träume sein? Steht mir ein Interview mit einem Wahnsinnigen bevor?

Gottesmutter und Partisanin. Im neuen Stadtmuseum entdecke ich die Gemälde des betagten Malers Michail Sawizkij. Er verschmolz die Madonnenikonografie mit dem Mythos der Partisanin und malte irritierend schöne KZ-Insassinnen. Er muss dabei gewesen sein, als gleich nach dem Krieg Stalins breite Sonnenstadt hochgezogen wurde. Die Stadt kommt aber auf keinem seiner Bilder vor.

Sawizkij interessiert mich auch, weil er nicht zu den marginalen Oppositionellen gehört, die sich westlichen Journalisten gerne als Sprecher der Nation aufdrängen. Als Soldat und KZ-Überlebender steht er für das ewige Schlachtfeld Weißrussland. Es scheint, dass das weißrussische Volk einen anderen Mythos als jenen des „Großen Vaterländischen Krieges“ nicht kennt. Der Jahrestag der Befreiung Minsks von der Roten Armee ist Nationalfeiertag. Weißrussische Veteranen humpeln gleich zwei Mal, am 9. Mai und am 3.Juli, zu Paraden herbei.

Die Russen als Faschismus-Erfinder? Der alte Maler Sawizkij, mit Stalin-Stipendium, rotem Diplom und den höchsten Orden ausgezeichnet, lebt im vielleicht einzigen Einfamilienhaus des Zentrums, umgeben von einem verwilderten Garten. Er empfängt mich in seinem Hochschulatelier. Eine Angestellte deckt den Tisch, Sawizkij trinkt honiglikörartigen „Balsam“. Der 88-Jährige ist von fragiler Konstitution, und vor meinen Augen spielt sich ein Beziehungsdrama mit seinem Sohn ab. Als der schwitzende und zitternde Sohn zu der These ausholt, dass in Wahrheit die Russen den Faschismus erfunden hätten, faucht ihn der Vater an: „Ich bin an deiner Nichtanwesenheit interessiert.“ Der Sohn bleibt sitzen und schweigt kurz.

Sawizkij besteht darauf, dass er ein Bauer sei und nach dem Krieg „in einen Bauernstaat zurückgekehrt“. Seine Erzählungen vom Neubau der zerstörten Stadt sind höchst verwirrend. Einmal sagt er, ihm sei leid um das alte Minsk. Ein zuständiger Politiker und ein zuständiger Architekt seien im Sterben gelegen, dennoch hätten sie nach Sawizkijs Meinung verlangt. „Die Pläne haben mir alle nicht gefallen“, sagt der Maler, „da waren immer Museen drauf. Immer ein Lenin-Museum, so ein Unfug, Lenin war kein einziges Mal in Minsk.“ – „Wie wollten Sie denn die Stadt haben?“ – „Dass sie eine Hauptstadt wird, mit einem Kreml.“ – „Und wie gefällt Ihnen der Hauptboulevard jetzt?“ – „Mir scheint, sie hätten ihn noch breiter machen sollen.“ Ich schnappe nach Luft: „Noch breiter?“

Um die junge Bloggerin Maryja Martysewitsch zu treffen, nehme ich die Metro. In der Metrostation patrouilliert ein Polizist, jäh weist er mit dem Finger zu Boden. Der Angesprochene, bequem auf einer Brüstung sitzend, gehorcht sofort. Ich selbst nehme nun immer die Unterführungen unter den Boulevards.

Am liebsten Pensionistin in Wien. Die schöne Maryja Martysewitsch ist ein Wirbelwind, Journalistin, Übersetzerin, Lyrikerin. Eines ihrer Gedichte beginnt mit dem verführerischen Vers: „Ich will eine Pensionistin sein und in Wien leben.“ Sie nennt Minsk eine „geräumige, angenehme, universale Stadt, die mit Weisheit erbaut wurde. Eine stille und stabile Stadt, in die ich gern aus dem Ausland zurückkehre“. Manche Themen, die sie in ihrem populären Blog aufwirft, erinnern an westliche Diskurse. So macht sie sich über den Chef einer kleinen christdemokratischen Partei lustig, da er gegen Homosexuelle sei und die Ansicht vertrete, Weißrussland habe schon zur Zeit von Jesus Christus existiert.

Martysewitsch schreibt auf Weißrussisch, einer vom Russischen weitgehend verdrängten Sprache. Chruschtschow sagte über die Weißrussen, sie würden als Erste im Kommunismus leben, da sie schneller als andere ihrer Muttersprache entsagen würden. Die fröhliche Bloggerin begann selbst erst mit 17 Weißrussisch zu sprechen. Sie schätzt, dass von den zehn Millionen Einwohnern Weißrusslands vielleicht 100.000 weißrussische Texte lesen. „Optimistisch geschätzt“, fügt sie hinzu.

Meine Beziehung zu Weißrussland ist nach wenigen Tagen verfahren. Wenn ich mit der weißrussischen Bahn unterwegs bin, folge ich wie hypnotisiert einer roten Laufschrift, die 20 Minuten lang unter Nennung des Strafrahmens nach Basispunkten aufzählt, was in diesem Zug denn so alles verboten ist.

»Sind Sie nicht besoffen?« Als ich einmal – verschlafen von einer langen Busfahrt – in Minsk ankomme, hält mich am Metro-Eingang eine Uniformierte an: „Sind Sie nicht besoffen?“ Ich weise die ungerechte Unterstellung zurück. Die Uniformierte: „Na, Sie gehen so zickzack.“ Später erkläre ich mir ihren Eindruck damit, dass ich im Bewusstsein des Beobachtetwerdens besonders zielgerichtet ging, was mich als Zickzackgeher in Gedanken überführte.

In dieser verfahrenen Lage treffe ich den Universalkünstler Artur Klinau – Mister „Sonnenstadt der Träume“. Ich erkläre ihm geradeheraus, dass ich mich in seiner Utopie klein und hilflos fühle. Er gibt trocken zurück: „Dieses Gefühl ist vollkommen natürlich, denn die Sonnenstadt ist nicht gebaut für den einzelnen kleinen Privatmenschen. Sie wurde für einen großen Menschen gebaut, für ein Kollektiv, für einen großen Organismus.“ Ach so. Na dann.

Er zeigt mir etwas Neues, nämlich die riesigen Höfe hinter den Stuckfassaden, chaotisch in Parks, Garagen, Fontänen und Hütten zergliedert. „Hier im Hof wird das Pompöse der Fassade vorne kompensiert, hier fühlt man sich normal. Auf der Straße ist die Theaterbühne, und hier das wahre Leben.“

Rammstein auf der Triumphstraße.Wir steigen in sein Auto. Obwohl der Suhrkamp-Autor nicht Deutsch kann, dreht er „Rammstein“ auf. Es kommt Stimmung auf, wir rauschen den Hauptboulevard hinauf, „acht Kilometer von Westen nach Osten, ein Altar der Sonne, eine Triumphstraße nach Moskau“. Nach einer Weile werden die Fassaden dürftiger, die tatsächlich gelb dominierte Sonnenstadt wurde nach Stalins Tod billig fertiggestellt.

„Wenn es nach mir geht“, sagt Klinau, „wird das alles fertiggebaut“. Er möchte zumindest ein Zehntel jener Zahl von Touristen, die Venedig besuchen, nach Minsk locken. Der Weg dorthin ist weit: Laut amtlicher Statistik wurde Weißrussland 2008 nur von 25.000 Touristen aus der EU besucht.

Klinaus Hinweis erweist sich als zweckdienlich, in einem seiner riesigen Hinterhöfe befindet sich das vielgelobte Zentrum der weißrussischen Gegenwartskunst. Beim Obelisken am Siegesplatz schallt es aus einem Armeelautsprecher: „Wir bewahren die Liebe, das Leben und die Schönheit.“ Dahinter, unauffindbar hinter Tor, Park und Garagen, verbirgt sich der kleine Barackenkomplex mit Buchhandlung, Galerie und dem Café Malako.

Dichter, Künstler, sexuelle Abweichler.Das Café ist cool klimatisiert und bietet vorwiegend westliche Importgetränke zu horrenden Preisen; insbesondere die Buchhandlung des Verlegers Logvinau schafft aber eine wärmende Heimstatt für Dichter, Künstlertypen, Mode-Individualisten, sexuelle Abweichler und Liebhaber des weißrussischen Buchstabens „y“. Typischerweise hängen die jungen Leute bis zur letzten Metro hier ab. Sie reagieren recht ratlos auf die Frage, wo man in Minsk sonst hingehen könnte.
Unter ihnen ist eine junge Autorin körperbezogener Lyrik, Volha Hapiejeva. Sie hat an der ins Exil nach Wilna gedrängten „Europäischen Humanistischen Universität“ (EHU) „Gender Studies“ studiert und nennt diese Schule „Ghetto“. Gern würde ich mit ihr darüber diskutieren, ob die Gender-Ideologie mit ihrer Gleichstellung von Mann und Frau nicht ebenso unfrei macht wie das neuerdings freundlich nach Westen blinzelnde Lukaschenko-Regime. Aus der Gender-Diskussion wird nichts, denn die zierliche Literatin erzählt, dass sie sich schon im Alter von sieben Jahren mit Rasierklingen verletzt hat, und dass sie darüber an der EHU schrieb, über Selbstverletzung in der Kunst. Ich sehe, dass Volha Hapiejavas Zeigefinger verbunden ist. Ich verkneife mir weitere Fragen.

Zum Schluss will ich eine Aufführung des Freien Theaters sehen, einer Gruppe, die international herumgereicht wurde. In Minsk ist das anders: Die Leiterin Natalia Koliada saß drei Mal, der Leiter Nikolai Chalezin vier Mal.


Ein unsympathisches Opfer. Das „Freie Theater“ teilt mir per Mail mit, ich möge mich in einem Außenbezirk vor einem bestimmten Restaurant einfinden. Ich fahre hin, ausschließlich junge Leute stehen vor dem Restaurant herum. Eine Latzhosenträgerin schält sich aus der Gruppe, wir folgen ihr. Sie führt uns in ein Viertel mit neuen Villen. Mittendrin ein verlassenes Häuschen. Ins kleine Wohnzimmer gequetscht sehen 65 Zuschauer die Aufführung. Es ist die Dramatisierung der Biografie von Irina Krasowskaja, deren Mann geschäftlich erfolgreich war und in den Neunzigerjahren vom Regime ermordet wurde.
Nach der Aufführung kippt das Theater dann plötzlich in die Realität: Die Tochter des Ermordeten wird mir vorgestellt. Diese unerwartete Situation löst widerstreitende Gefühle aus. Einerseits erschrockenes Beileid. Andererseits ist die Familie, mit deren Bühnenschicksal ich gerade mitgefiebert habe, in der Realität nicht ganz so sympathisch. Die in Amsterdam lebende Tochter wirkt etwas blasiert, ihre Mutter lebt mit einem anderen Millionär in Amerika und urlaubt in seinem griechischen Haus.

Die Leute vom Freien Theater sagen: „Wir haben die mutigsten Zuschauer der Welt. Wenn der KGB kommt, filmt er die Gesichter der Zuschauer.“ Und: „Das ist nicht unsere Stadt.“ Und: „Was uns hier hält, das sind die Inhaftierten, die uns sagen, dass die Erinnerung an unsere Aufführungen sie im Gefängnis aufrecht erhält.“

Der Kameramann mit dem Engelsgesicht, den ich einst auf dem Flugblatt sah, sei das letzte Todesopfer des Regimes gewesen, erklärt der Theatermacher. Das Regime habe im Jahr 2000 mit dem Morden aufgehört, weil ihm die ständige Rechtfertigung, beispielsweise vor dem Europaparlament, unangenehm geworden sei.

Ich bin nicht mehr heiter. Ich verlasse Minsk. Um fünf Minuten nach Mitternacht in einer Metrostation, eine Mitarbeiterin in oranger Warnweste lackiert gewissenhaft einen grauen Betonkübel mit der Aufschrift „Müll“. Anders als vor acht Jahren verlasse ich Minsk diesmal nicht heiter und nicht gelöst.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.01.2011)

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