Faust zerlegt die Welt und sogar Mephisto

Faust zerlegt Welt sogar
Faust zerlegt Welt sogar(c) APA SCHAUSPIELHAUS GRAZ LUPI SPU (SCHAUSPIELHAUS GRAZ LUPI SPUMA)
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Peter Konwitschny inszeniert im Schauspielhaus beide Teile des Goethe-Stücks in einer stringenten und modernen Fassung. Speziell Udo Samel als listiger Teufel und Katharina Klar als Margarethe begeistern.

Um eine Weltreise anzutreten, reicht es derzeit, nach Graz zu fahren. Peter Konwitschny hat beide Teile von Goethes „Faust“ inszeniert, etwas strapaziös, insgesamt aber sehr gelungen. Gewöhnlich wird bei solchen Unternehmungen der Text unter Berücksichtigung bekannter Zitate insgesamt aber grob zusammengestrichen. Konwitschny ordnet seine Fassung seinem Konzept unter – und dieses ist überwiegend zwingend. Es beginnt unterhaltsam. Das Berliner Faktotum Ahne, bekannt geworden durch seine Gespräche mit Gott – auch Esoteriker machen mit dergleichen gute Geschäfte – befragt den Allerhöchsten per Handy nach allem, was Menschen so interessiert, von den Haaren, die im Alter an den falschen Stellen wachsen bis zu Tieferem wie warum der Mensch missraten ist und ob er ohne Gott auskommen könnte.

Ein Zuschauer fordert derweilen lautstark den Beginn der Vorstellung ein und mokiert sich über den „ungoethischen“ Beginn. Es ist der Mephisto. Udo Samel, rundlich und statisch, aber dank seiner markanten Stimme und seiner tollen Rezitation souverän, steht in starkem Kontrast zu dem nervösen, energiegeladenen Faust Jan Thümers, der bei geschlossenem Vorhang sein Studierzimmer demoliert – und auch später hauptsächlich als Zerstörer auffällt: der Frauen, Margarethe und Helena sowieso, aber auch der ganzen Welt. Auf diesem Weg wird er sogar seinem teuflischen Begleiter gelegentlich zu anstrengend. Die beiden sinken am Schluss gemeinsam nieder, Mephisto mit zerrissenem Jackett, Faust von Lungenwurm und Blindheit gepeinigt, aber bis zum letzten Atemzug fast ungebrochen – wie sein Schöpfer Goethe. Das Insel-Taschenbuch „Goethes letzte Reise“ von Sigrid Damm ist die passende Lektüre für diesen „Faust“, der sich allerdings von altmodischer Bildungsbetulichkeit geradezu pedantisch fernhält und auch den höheren Mächten nicht allzu viel Platz einräumt nach dem Motto: „Nach drüben ist die Aussicht uns verrannt.“

Das dominante Dekorationselement im Bühnenbild von Ausstatter Johannes Leiacker sind Betten, ein Symbol für fragile Geborgenheit, die selbst dann hält, wenn sie hoch über der Szene schweben, das Wichtigste aber ist der Sex. In kürzester Zeit muss die hinreißende Margarethe der Katharina Klar eine starke Metamorphose bewältigen. Bei Konwitschny ist sie ein selbstbewusstes Kind von heute, in Sportschuhen und androgyn-schickem Zara- oder H&M-Outfit, dem der weltläufige, mutmaßlich kluge Gelehrte, der zuvor in der Hexenküche – richtig geraten, mit Sex – verjüngt wurde, einfach gefällt.

Rabiate Welteroberung und viel Sex

Mit jugendlicher Vitalität stürzt sich Margarethe in diese Liebesgeschichte und geht daraus als schwangere Hure hervor, die Faust, der gerade auf dem Blocksberg – schon wieder Sex – reichlich, aber freudlos genossen hat, ihren Bauchinhalt, einen Polster, an den Kopf knallt. Faust ist zerknirscht, leidet gar – doch nach der Pause bricht er auf zu neuen Ufern: „Du Erde warst auch diese Nacht beständig...“ In einem furiosen Feuerwerk lässt Konwitschny die Kaiserszene ablaufen, die so unglaublich aktuell wirkt mit den Umtrieben des Hofstaates, der Ausbeutung von Rohstoffen, der Erfindung des Papiergeldes, der Inflation usw. Doch der Regisseur zieht auch Linien, die man bei Goethe nicht sieht. Die Gier nach dem Geld lässt allerlei materielle und erotische Bedürfnisse üppig ins Kraut schießen, verdirbt die letzten Reste der Moral, breitet sich epidemisch aus und zieht die Dekadenz nach sich – mit Faust als Spiritus Rector. Er verliert völlig den Boden unter den Füßen, gibt sich neuen Allmachtsfantasien hin und scheucht seinen Mephisto herum, der ihm Helena und Paris beschaffen soll, um die Hofgesellschaft zu „bespaßen“. Zum Abstieg zu den Müttern ist Konwitschny nichts eingefallen. Helena aber erscheint im Rauch als Schemen – die undeutliche Schöne weckt die schärfste Gier. Faust eifert, als sie Paris kost.

Bis er sie bekommt, muss sich der Rastlose noch gedulden, denn nun gibt es eine Burlesque-Show zu sehen und es geht schon wieder um Voyeurismus und Sex. Konwitschny scheint von dem Thema mehr besessen zu sein als Goethe. Er verbannt die Nymphen und andere mythologische Gestalten in ein schauerliches Plastik-Ambiente nach Las Vegas, wo man überdies Steak mit Hummer für acht Dollar schmausen kann – während die primären und sekundären Geschlechtsorgane um einen herum wackeln. Wer über dem ganzen Wirbel aus schierer Erschöpfung eingenickt ist – es handelt sich um die eher schwachen Szenen des Abends – den wecken platzende Luftballons. Verwandlung: ein Berliner Zinshaus, dessen Bewohner sich ihre sexuelle Befriedigung vor dem Computer verschaffen, auch Faust. Helena wohnt nebenan, ein einsamer Single, der sich anhand von Diane Kruger aus dem „Troja“-Filmepos ins Mythologische träumt. Die beiden Mietskaserneninsassen kommen zusammen, ihr Sohn Euphorion aber verfällt der Hyperaktivität und stürzt sich aus dem Fenster. Jetzt gibt es für Faust kein Halten mehr, die Aufführung galoppiert der Eroberung des Meeresstrandes entgegen, hält kurz bei der zarten und berührenden Episode von Philemon und Baucis (Gerti Pall!) inne – und mündet ins Finale.

Konwitschny hat viel zu erzählen, man möchte ihm nicht in allem folgen, Freunde konservativerer Aufführungen dürften irritiert sein. Doch in der Modernität und Zeitnähe hat er Peter Steins unvergesslichen Kraftakt übertroffen. Und das ist mehr als zu erwarten war. Auf zur Weltreise nach Graz!

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.12.2012)

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