Philosophie: Realität wird schnell zur Religion

PHILOSOPHIE. Ernst von Glasersfeld, ein Begründer des Radikalen Konstruktivismus, über den Wahrheitsdrang der Evolutionsbiologen und das Tragische an Popper.

Die Presse: Wo steht der Radikale Konstruktivismus heute in den USA?

Ernst von Glasersfeld: Der Konstruktivismus ist nach wie vor beliebt und viel benützt in den Departments für Didaktik und Mathematik, von der Volksschule bis in den High-School-Bereich hinein. Auch in der Wissenschaftserziehung redet man viel von Konstruktivismus. Aber in den Philosophie-Departements ist er überhaupt nicht vertreten.

Profitieren Sie nicht davon, dass die Biologie die Physik als Leitwissenschaft abgelöst hat? Die Neurobiologie etwa stützt doch Ihre Ansicht, dass es "objektive" Realität nicht gibt.

Glasersfeld: Die großen Physiker des letzten Jahrhunderts haben, als sie über Philosophie nachzudenken begannen, Aussprüche gemacht, die sehr konstruktivistisch sind. Keiner von denen hat gesagt, dass das, was die Physik beschreibt, die ontologische Realität ist. Was sie beschreiben, ist die Erlebenswelt. Und das ist genau, was der Konstruktivismus sagt: Über die Erlebenswelt kommt man nie hinaus. Ich komme also mit Physikern besser aus als mit Biologen.

Sehen Sie die spektakulären Arbeiten etwa eines Gerhard Roth nicht als Bestätigung?

Glasersfeld: Gerhard Roth ist in Deutschland, nicht in Amerika. Ich habe an der Universität von Massachusetts an einem Institut gearbeitet, das sich mit der Vermittlung von Physik und Wissenschaft, später auch Mathematik, befasste. Wir wollten auch einen Kurs für Studenten entwickeln, die Biologiekurse brauchen. Da waren drei Biologieprofessoren, mit denen war nichts zu machen.

Weil sie als Biologen nicht von ihrer "ontologischen Fixierung" loskommen?

Glasersfeld: Sie kommen nicht davon los, dass die Evolutionstheorie eine absolute Wahrheit ist. Vom konstruktivistischen Standpunkt aus ist sie vielleicht das beste Modell, das wir je hatten - aber eben nur ein Modell, das gewisse Dinge in der Erfahrungswelt sehr schön erklärt.

Der Konstruktivismus scheint also in seiner Akzeptanz sehr eng auf den Bereich "Lernen" eingeschränkt zu sein.

Glasersfeld: Es ist offensichtlich sehr schwer, von der Idee wegzukommen, dass wir, wenn wir genug forschen, früher oder später doch herausfinden werden, wie die Welt funktioniert. Für den Wissenschaftler, der seine Experimente macht, ist völlig gleichgültig, ob er glaubt, dass seine Experimente ihm die Welt enthüllen, oder ob sie einfach Erlebnisse erzeugen, die mit der Theorie im Einklang stehen. Später, wenn er anfängt, philosophisch zu denken, fängt das an, eine Rolle zu spielen.

Sie haben wiederholt gesagt, dass der Realismus richtig "gefährlich" werden könne. Wie?

Glasersfeld: Der Realismus wird gefährlich, wenn es Leuten gelingt, andere davon zu überzeugen, dass sie die absolute Wahrheit haben. Die neigen dann dazu, andere zu zwingen, das auch zu glauben. Es wird wie eine Religion.

Der radikale Konstruktivismus scheint so etwas wie ein Denksport für Intellektuelle zu sein. Der Normalbürger kann sich nicht immer bewusst halten, dass er es nicht mit der Realität zu tun hat, sondern bestenfalls mit "viablen", gangbaren Modellen.

Glasersfeld: Das ist ja der Witz. Meiner Meinung nach kann man mit diesem Zugang besser leben als mit anderen. Vor allem, weil man nicht die enormen Enttäuschungen hat, wenn etwas nicht funktioniert. Vom konstruktivistischen Standpunkt aus ist zu erwarten, dass etwas nicht immer funktioniert. Schön, dann versucht man es anders. Man kann sehr gut aufwachsen ohne den festen Glauben, dass man die Welt erkennt. Weil ich durch Zufall mit mehr als einer Sprache aufgewachsen bin, war mir früh klar, dass das, worüber man in einer Sprache redet, nicht die gleiche Welt ist, über die man in einer anderen Sprache redet.

Es reicht also, wenn es funktioniert.

Glasersfeld: Das Grundprinzip der Kybernetik - und für mich, wenn auch nicht für alle Kybernetiker, liegen Konstruktivismus und Kybernetik nah beieinander -, ist nicht, dass man sich Kausalrezepte konstruiert, mit denen man arbeiten kann, sondern, dass man lernt, den Hindernissen auszuweichen.

Ein sehr individuelles Modell.

Glasersfeld: Ja, aber wenn Sie wissen, dass Ihr Modell nicht das einzige ist, müssen Sie nicht Recht haben. Wenn die anderen ein anderes Modell haben: Schön! Man verliert den Drang, Leute zu überzeugen.

Gesellschaftlich geht der Trend in eine andere Richtung: Religion wird bedeutender.

Glasersfeld: Ich finde das enorm deprimierend. Ich verehre die Mystiker, aber die Rationalisierung der mystischen Erlebnisse, das ist verheerend. Man kann das, was die Dichter des Orients verfasst haben, nicht ins Rationale übersetzen.

Ihre Botschaft ist also nicht die Wahrheit, sondern der Verzicht auf sie.

Glasersfeld: Man muss sich von Anfang an darüber im Klaren sein, dass man an die ontologische Wahrheit ohnehin nicht kommt. Das ist für mich das Tragische an Karl Popper: Er hat wunderbare Sachen gesagt über Mutmaßungen und Widerlegungen, ganz im Sinne des Konstruktivismus. Aber irgendwie konnte er die Idee nicht loslassen, dass man, wenn man lange genug fortsetzt, an die Wahrheit kommt.

Woher kommt es, dass wir Menschen der "ontologischen Versuchung" erliegen?

Glasersfeld: Ich denke, es ist ein Problem der Erziehung. Ein kleines Kind will vor allem Ordnung schaffen in seinen Erlebnissen. Und diese Ordnung muss für lange Zeit als die einzig mögliche betrachtet werden. Der Umschwung von diesem Glauben an eine einzige Ordnung zu der Einsicht, dass das nur eine Ordnung ist, die man auch wechseln kann, ist sehr schwierig. Das sollte in der Pubertät geschehen. Aber wie man das auslöst, da habe ich keine Ahnung.

Es ist ja auch anspruchsvoll: Der Konstruktivismus legt nahe, dass nicht einmal das "Selbst" eine ontologische Größe ist, sondern maximal ein Beziehungs-Kontinuum.

Glasersfeld: So wie ich es sehe, ist das Selbst nicht eine Sache, sondern eine Reihe von Beziehungen. Damit ist auch klar, dass das "Selbst" von heute nicht dasselbe ist wie das "Selbst" von vorgestern. Es ist nicht nötig, da einen festen Punkt zu haben. Worin man sich treu bleiben muss, ist nur ein gewisses Gleichgewicht zwischen den Beziehungen.

Wie kommt man von diesem individuellen Zugang zu einer gesellschaftlich verbindlichen Ethik? Mit Habermas' "Diskurs-Ethik"?

Glasersfeld: Ich habe oft gesagt, es sollte jemand Anleitungen zur Entwicklung einer Ethik aus dem Konstruktivismus schreiben. Ich kann das nicht, das müsste jemand anderer machen. Ich habe nur die Grundlage geschaffen, indem ich sage: Im Konstruktivismus sind die Anderen, ist also Ihre Konstruktion der Anderen nötig, um ein höheres Niveau der Viabilität zu schaffen. Dazu müssen Sie die Anderen gut behandeln. Das ist die erste Stufe der Verbindlichkeit. Die anderen Stufen sind nicht vorhersagbar.

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