Wie man Hebbels Tragödie seziert

FOTOPROBE BURGTHEATER: 'MARIA MAGDALENA'
FOTOPROBE BURGTHEATER: 'MARIA MAGDALENA'(c) APA/GEORG SOULEK/BURGTHEATER
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Michael Thalheimer legt bei der Premiere von „Maria Magdalena“ mit Sarah Viktoria Frick als Klara den Knochenbau des bürgerlichen Trauerspiels frei. Das einzige Accessoire in dem dunklen Bau: ein helles Kreuz.

Dieser Regisseur liebt offenbar schmale Bauten, das hat Michael Thalheimer bereits 2012 am Burgtheater bei Hugo Hofmannsthals „Elektra“ gezeigt. Die Burg von Mykene war ein dunkler Schlitz, in dem sich Hofmannsthals griechische Familientragödie ereignet. Für Friedrich Hebbels bürgerliches Trauerspiel „Maria Magdalena“ ließ Thalheimer von Olaf Altmann erneut einen hohen, schwarzen, offenen Kasten konstruieren, der von der Bühne des Burgtheaters mächtig herunterhängt. Das einzige Accessoire in dem dunklen Bau: ein helles Kreuz, unter dem die Familie des Tischlermeisters Anton streng und gläubig lebt, zum Scheitern verdammt. Der Untergang zeigte sich auch diesmal (die Premiere war am Donnerstag) von Anfang an allein schon durch dräuende elektronische Musik, mit der Bert Wrede mageres Geschehen verziert.

Die Kleinfamilie in ihrem leeren Kasten

Hebbels 1843 geschriebener Dreiakter über ein „gefallenes“ Mädchen, das an der Bigotterie der Mitmenschen zugrunde geht, vom Verlobten verraten, von der Liebe nicht gerettet, vom Vater vorverurteilt wird, ist nicht nur geradlinig, sondern geradezu lakonisch in seiner Anklage der Verhältnisse. Dadurch wird das Altmodische an Text und Stoff abgefangen. In dieser Inszenierung gelingt nun das Kunststück, die Mechanik des Trauerspiels mit allerhand einfachen Kunstgriffen freizulegen. Thalheimer schneidet durch Haut und wenig Fett tief ins Fleisch, zeigt in 100 Minuten den Knochenbau der frühindustriellen Gesellschaft mit deren geplagten Kleinbürgern. Er geht an die Grenze. Noch ein wenig mehr Reduktion oder Verfremdung, dann würde die Aufführung ins Lächerliche kippen oder aus Mangel an Bewegung langweilen. Aber dazu kommt es nicht.

Die Zurschaustellung bewegt vor allem, weil in einem prächtigen Ensemble Sarah Viktoria Frick als Antons Tochter Klara eine fantastische Protagonistin ist. Sie ist unter all diesen Marionetten ein liebendes, leidendes Wesen, das aus perverser Pflichterfüllung konsequent in den Tod geht. Der aber wird, fast wie in einem mittelalterlichen Mysterienspiel, von Anfang an gezeigt.

Der Vorhang geht hoch, es wird langsam hell, man sieht die Kleinfamilie in ihrem leeren Kasten. Links steht Klara in einem steifen weißen Kleid, sie blickt ernst, nur die Augen verraten mehr. Unsicherheit. Daneben der Bruder Karl (Tino Hillebrand), ein Luftikus, der hinaus will. Und rechts daneben in ihrem Brautkleid die Mutter, in der man kaum die tolle Regina Fritsch erkennt. Sie ist zur Leiche geschminkt, das enge Haus wirkt wie ein kühles Grab. Angeblich geht es ihr wieder gut, aber allein an der Stimme erkennt man die Zersetzung. Die Mutter flötet oder lässt das Ungeheuer heraus, als wäre sie ein Zombie. Zumindest scheint die frömmlerische Frau eine gespaltene Persönlichkeit zu haben. Nach dem Tod der Mutter wird auch die Tochter ihre Stimme derart unheimlich wechseln, als ob sie vom Dämon besessen wäre. Sie brüllt, kreischt und hechelt gar. Frick beherrscht fast jede Expression. Wenn sie mehrfach „Heirate mich!“ winselt, wirkt das selbst in der Übertreibung real.

Die Männer pflegen das Selbstmitleid

Erst einmal aber wird sie nach dem Abgang des Bruders ihrem Vater ausgesetzt. Anton nähert sich aus dem dunklen Hintergrund. Mit seinem Stock klopft er auf den Bretterboden, als ob es Schläge des Schicksals wären. Tilo Nest verkörpert einen um Würde bemühten Patriarchen, der mit Mühe die Aggressionen verbirgt. Er ist aber zugleich, so wie andere Herren auch, nah am Wasser gebaut. Dieser Meister besitzt reichlich Selbstmitleid, so wie der potenzielle Schwiegersohn Leonhard, den Lucas Gregorowicz sehr gelungen als gnadenlos meckernden Mitgiftjäger gibt. Und Johann Adam Oest spielt in köstlicher Manier den Kaufmann Wolfram, der vor Emotionen überfließt, die im Selbstmitleid enden. Seine Anschuldigungen haben Karl als mutmaßlichen Dieb in den Kerker, dessen Mutter den Tod gebracht. Die Suche nach Diebsgut in der leeren Kammer war eine schamlose Körperkontrolle. Nun, da Wolframs Frau am Ende als jene ausgemacht wurde, die den Schmuck versteckte, fürchtet er nichts wie den Skandal.

Das Haus gerät in gefährliche Schieflage

Da hängt das Haus längst schon in Schieflage, allein das Kreuz bleibt unerbittlich senkrecht, während der Vater haltlos mit Selbstmord droht. Und noch ein Mann leidet unter Kontrollverlust – der Sekretär (romantisch bis heroisch von Albrecht Abraham Schuch gegeben). Er liebt Klara, sagt er. Aber erst kann er es nicht verwinden, dass sie vom anderen ein Kind erwartet, dann beschleunigt er die Tragödie, erschießt Leonhard im Duell und wird selbst tödlich verwundet.

Sie alle sind Pappkameraden mit langen Schatten, an der Kippe zur reinen Farce. Man redet aneinander vorbei. Nur der tragischen Heldin ist es vorbehalten, ein Mensch in seinem Widerspruch zu sein. Frick macht diesen Abend zur Gelegenheit, die dramatischen Tugenden des hierzulande selten gespielten Stückes zu erkennen. Am Schluss sagt Anton den berühmten Satz „Ich verstehe die Welt nicht mehr.“ Bei Thalheimer wird bis dahin gnadenlos herausgeschält, warum die Welt so ist, wie sie nicht sein sollte.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.02.2014)

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