Unser Shakespeare hat Geburtstag: William wird 450

Unser Shakespeare hat Geburtstag: William wird 450
Unser Shakespeare hat Geburtstag: William wird 450APA/EPA (DANIEL REINHARDT)
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Warnung! Dieser einzig authentische Text über Willm Shaks(p) ist für Jugendliche verboten. Er enthält explizite Szenen von Gewalt, Sex und Politik.

Wer sich vor rund 400 Jahren in Londons Theaterlandschaft am Südufer der Themse behaupten wollte, musste seine Stücke marktschreierisch ankündigen. Man stand in direkter Konkurrenz zu verwandten Unternehmungen wie der Bärenhatz. In die anrüchige Gegend von Southwark kamen Städter aus allen Schichten zu ihren Vergnügungen. Außerhalb der Jurisdiktion Londons reihte sich Pub an Pub, Prostitution und Taschendiebstahl blühten. Zur Abschreckung wurden Kriminellen die Hände abgehackt, sie wurden ausgeweidet, gevierteilt, gehängt – auch das gehörte zu den beliebten Spektakeln, zum Volkssport. Wenn also die Besitzer des Globe, des Swan, der Rose oder des Hope ein ausverkauftes Haus haben wollten, dann warben diese Freilichttheater mit Sensationen – oder ihrem besten Mann.

Shakespeare war eine Zugnummer. Auf den gedruckten Ausgaben einzelner Dramen stand oft sein Name. Er hielt sich auf der Bühne. Wie sonst wären seine Kollegen Heminges und Condell auf die Idee gekommen, 1623 posthum 36 seiner Stücke gesammelt herauszugeben? Das teure, damals ungewöhnliche Unternehmen lässt darauf schließen, dass der 1616 verstorbene Shakespeare ein Star geblieben ist. Vom Geburtsjahr 1564 bis zur Schließung der Bühnen 1642 durch die Puritaner wurden in London 3000 Dramen aufgeführt. Nur 230 haben sich erhalten, beträchtliche 38 davon werden Shakespeare zugeschrieben. Die meisten davon zählen bis heute zu den erfolgreichsten Stücken der Weltliteratur.

Woher kommt diese Faszination? Für die Vergötterer, spätestens seit der Romantik und vor allem auch in Deutschland, ist evident, dass Will der Größte sei. Für Samuel Taylor Coleridge besitzt er eine Weisheit, die tiefer geht als unser Bewusstsein. Shakespeare habe gottgleiche Talente gehabt. Jede seiner „majestätischen Zeilen“ sei auf den ersten Blick zu erkennen, behauptete er in Vorlesungen. Johann Wolfgang von Goethe begeisterte sich mit 22 Jahren ebenso exzessiv für das englische Vorbild, dessen intensive Verehrung in der Generation zuvor, bei Lessing und Herder, begonnen hatte. In der „Rede zum Schäkespears-Tag“ schreibt Goethe im Geist des Sturm und Drang: „Und ich rufe: Natur, Natur! Nichts so Natur als Shakespeares Menschen... Er wetteiferte mit dem Prometheus, bildete ihm Zug vor Zug seine Menschen nach, nur in kolossalischer Größe...“

Die „Shakespeare-Idolatry“ mag übertrieben wirken, aber es gibt sie noch immer, etwa bei Literaturwissenschaftler Harold Bloom, der den Mann aus Stratford in seinem Kanon an die erste Stelle setzt – vor Homer, Sophokles, Vergil, Dante, Cervantes, Tolstoi. Der Professor aus Yale verrät bereits im Titel seiner Summa über diesen Dramatiker den Grund: „Shakespeare. The Invention of the Human“ (1998).

Man könnte einwenden, dass vollendete Gedichte des Horaz schöner seien als Shakespeares Sonette, dass Cicero ihm rhetorisch überlegen war, dass Dostojewski die Psyche des Menschen ebenso tief ergründet habe. Tatsächlich aber hat Shakespeare, dieser beweglichste Geist im elisabethanischen Treibhaus, den Aufbruch der Neuzeit am besten in Dichtung gefasst. Er schafft durch und durch moderne Menschen, in einem Umfeld, das zwischen Glauben und Nihilismus zerrissen wird. Der bedeutende polnische Literaturwissenschaftler Jan Kott hat das Phänomen in einen Halbsatz gefasst: „Shakespeare, Our Contemporary“ heißt seine Studie von 1964.

Wir meinen nicht nur Shakespeare zu kennen, er schafft es auch, hunderte Figuren ganz differenziert zum Leben zu erwecken, von denen Dutzende unverwechselbar sind. Hamlet, Lear, Othello und Macbeth, Lady Macbeth, Rosalind, die Aussteigerin, die es in den Wald von Arden verschlägt, die widerspenstige Kate und die scharfzüngige Beatrice, Romeo und Julia, die Feenkönigin Titania, die sich durch Zauberei in einen schauspielernden Handwerker mit Eselskopf verliebt, all die Könige und Mächtigen, die bei ihm vom Rad des Schicksals durcheinandergewirbelt werden. Er versieht sie mit Innerlichkeit. Wer kann diese ganze Welt als Bühne je vergessen?

Kehren wir zurück nach Southwark, ins New Globe. Es soll ein getreuer Nachbau des Originals sein, das 1613 abbrannte. Im neuen Haus werden seit 1997 Stücke so nachgespielt, wie man sie sich bei Aufführungen in der Shakespeare-Zeit vorstellt. 2000 Menschen passten damals in das „runde O“. Alle, vom einfachen Diener bis zum höchsten Adeligen, besuchten die Nachmittagsvorstellungen dieser Freilichtbühne mit ihrer erstaunlich guten Akustik. Als Medium war dieses Theater damals Avantgarde. Dutzende höchst talentierte Dramatiker entwickelten es in London, diesem multikulturellen Wunder der Welt, zur Meisterschaft. Shakespeare schaffte es, diese Möglichkeit bis an die Grenzen von Sprache und Darstellung zu nutzen.

Er bot den Groundlings, die vor der Bühne standen, von denen die meisten Analphabeten waren, eine tolle Show. In seinen Dramen wird geköpft, gepfählt, gefoltert und gefochten. Wenn das nicht wirkte, kamen eben noch die Clowns, turnten oder sangen Lieder. Zudem aber legte er seinen Text so vielschichtig an, dass selbst den gebildetsten Gelehrten, den Juristen, Theologen und Kanzlern der Kopf schwirrte. All diese politischen, philosophischen, soziohistorischen Anspielungen sind in gigantisch viel Sekundärliteratur kommentiert. Derzeit erscheinen jeden Tag 15 Abhandlungen und mindestens ein Buch über den Dichter und sein Werk. Das ist längst nicht erschöpft. Der Wortschatz dieses Proteus ist immens. Jeder Satz hat Zweideutigkeiten, von der derben Zote bis zum zartesten Ausdruck. Die Szenen verwandeln sich in immer neue Sinnzusammenhänge.

In diesem Wahnsinn ist die Methode schwer zu fassen. Voltaire hat wahrscheinlich doch auch recht mit seiner Kritik an Shakespeare: Sein Werk sei „die Frucht der Inspiration eines betrunkenen Wilden“, er besäße „keinen Funken von Geschmack und habe keine Kenntnis der Regeln“. Dieser Barbar dürfe das zivilisierte Frankreich nicht erobern. Seine Dramen sind in der Tat gefährlich. Sie zeigen den Menschen ganz als Mensch. Sie verändern ihn.

William schaffte es manchmal bis zum Halbgott. Als Dichter haben ihn die einen so himmelhoch gelobt, dass andere in der Antithese dem Bürger aus Stratford-upon-Avon nicht zutrauen, der beste Dramatiker der Neuzeit zu sein. Auf die Vergötzung im 18. Jahrhundert folgte der Zweifel an seiner Autorenschaft. Ein Wilddieb und Pferdeknecht, wie die Legende sagt, als Schöpfer von „Richard III“ oder „The Tempest“? Zu den Zweiflern zählten Henry James, Otto von Bismarck, Mark Twain und Walt Whitman. Inzwischen gibt es sieben Dutzend Kandidaten, die statt des Burschen vom Land, den es nach London verschlagen hat, diese Stücke, Sonette und Versepen geschrieben haben sollen.

Die wildesten Spekulationen: Francis Bacon (1561–1626). Zwar passt die Lebenszeit des gelehrten Lordkanzlers, sonst aber spricht fast alles dagegen. Bacon hasste Theater, er war ein miserabler Dichter, mit Politik und Denken ausgelastet. Christopher Marlowe (1564–1593) hieß der nächste Favorit der Anti-Stratfordianer, die auch Herrschaften wie Francis Drake, Thomas More oder Walter Raleigh ins Spiel brachten. Marlowe, ein begabter Dramatiker und Spion, wurde mit 29 Jahren im Wirtshaus erstochen. Wie kann er dann all die Stücke geschrieben haben, die nach 1593 unter dem Namen Shakespeare erschienen sind? Ganz einfach für seine Förderer: Kit überlebte, schrieb im Exil unter Pseudonym. Warum einfach, wenn es kompliziert geht? Edward de Vere (1550–1604), der 17. Earl of Oxford, ist seit 20 Jahren der heißeste Kandidat für deutschsprachige Hobbyforscher wie Kurt Kreiler (2009) oder Walter Klier (1994). Auch sie stört der frühe Tod nicht. Es mussten nur ein paar hundert eingeweihte Londoner all die Chroniken fälschen – und niemand durfte es weitersagen.

Solche Thriller werden auch dadurch genährt, dass fast nichts Persönliches, keine Briefe oder gar Tagebücher vorhanden sind, nur die überlieferten Dramen und Dokumente. War Shakespeare weit gereist? Umgänglich? Bigott? Bisexuell? Ein Frauenheld?

Wir wissen es nicht. Von einem bestimmten Tag in London aber gibt es Exaktes, ein Protokoll. Charles Nicholl hat darüber ein dickes Buch geschrieben: „The Lodger“ (2007). Shakespeare musste im Prozess Belott vs. Montjoy als Zeuge vor Gericht in Westminster aussagen. Er war beim Beklagten 1604 Mieter an der Ecke Silver und Monkswell Street gewesen. Die Unterschrift im Protokoll am 11. Mai 1612: „Willm Shaks(p)“. Ein Schreiber notierte das Statement. Was sagen die beinahe originalen Zitate des Dichters in diesem Streit um Geld? Ja, er kenne beide Männer seit zehn Jahren, aber an die Summe oder andere Dinge, die Belott als Aussteuer 1604 versprochen worden seien, erinnere er sich nicht.

Also wieder nur die Stücke! Man könnte nun „Maß für Maß“ auf Andeutungen abklopfen, ob Shakespeare vor Gericht die Wahrheit gesagt hat.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.04.2014)

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