Entdecke den Stier in dir

Akademietheater. Dimitré Dinevs "Das Haus des Richters" – merkwürdige Mythen, zu einer tollen Novität verwoben.

Was wird das wohl werden?, fragte man sich im Akademietheater am Samstag bei der Uraufführung von „Das Haus des Richters“, als die zwei Bauarbeiter in den ersten eineinhalb von mehr als zweieinhalb Stunden seltsame Module, die aus Bildern von Max Ernst stammen könnten, zu einem Haus zusammenfügen wollten, wenn nicht gerade diskutiert oder kopuliert wurde. Gibt es denn einen Plan? Irgendwie ähnelte ihre Situation der des Dichters Dimitré Dinev, der im Auftrag des Burgtheaters Versatzstücke aus dem Mythenkreis um den kretischen König Minos neu verwoben hat.

Doch die archaischen Geschichten über triebhafte Stiermenschen, reine Ungeheuer und lüsterne Frauen fügten sich zu einem wunderschönen Komplex. So spannend war dieser griechische Pauschal-Urlaub, dass man einige missglückte Szenen und sogar gelegentliche Längen rasch vergaß. Dinev, dieser begnadete Erzähler, hat mit seinem ersten Stück für ein großes Haus einen echten Treffer gelandet, die Inszenierung von Niklaus Helbling, dem ein lustvoll agierendes Ensemble zur Verfügung steht, macht diesen langen Theaterabend phasenweise zu einem zauberhaften Erlebnis.

Theseus, der Dieb

Die Gastarbeiter, die für den Richter bauen (wunderbar Michael König als Minos), sind keine gewöhnlichen Maurer. Der Meister, ein Flüchtling vom Balkan (Martin Reinke ganz stark als Daidalos), und sein Sohn Iko (Daniel Jesch als Ikaros), konstruieren auch kein gewöhnliches Haus, sondern das Labyrinth für den ungeheuren Sohn des Richters. Der Vater will ihn für immer wegsperren, weil er ihn für intelligent, fremd und gefährlich hält. „Sie sollen ihn erlösen. Er soll wieder frei sein“, sagt er dem Meister.

Dietmar König spielt diesen Minotaurus, der sein schreckliches Antlitz unter einer weißen Maske verstecken muss. Zugleich ist König aber der Dieb Theseus, der sich im Labyrinth nicht verirrt und den sagenhaften Minotaurus erlegt, weil ihm die vom Meister instruierte Ada (Alexandra Henkel als Ariadne) ein Wollknäuel als Orientierungshilfe und ihre Schwester (Mareike Sedl als Phädra) eine Pistole zur Verteidigung mitgegeben haben. Theseus, in seinen Angriffen auf Minos und das Establishment schrecklicher als jeder Minotaurus, kommt als Sieger heraus, nimmt sich wahllos die willigere Schwester und sagt den für einen Irrgarten passenden Satz: „Verschwinden wir!“

Mensch oder Stier irren, wo sie streben, und dieses Drama ist besonders dann stark, wenn sich die Paare in beinahe beliebiger Variation die Maske des Begehrens aufgesetzt haben und nach Liebe, oder wenigstens nach Sex suchen. Im zweiten Akt kulminiert diese Suche in simultanen Liebesakten: Der Richter liebt die Erzieherin (Dorothee Hartinger als Wera) seiner Töchter, er will mit ihr ein Kind zeugen. Die Hausherrin wiederum (großartig Barbara Petritsch als Pasiphaë) erneuert zugleich das Verhältnis zum Meister, der vor zwanzig Jahren, ein halbes Jahr vor der Geburt des Minotaurus, abgereist ist. Ist er dessen Vater? Wer weiß. Als er die Stier-Maske ablegt, wird sie vom Richter aufgesetzt, ehe der die eigene Frau besteigt. Und Iko, der junge Einfältige, begehrt Xeni (Nicola Kirsch), wird aber in dieser schwülstigen Nacht von Phädra erlegt. Sie bringen ihm kein Glück, diese Frauen.

Exzessive Tanz-Nummer

Verwirrend? Nicht, wenn man an das Chaos der Gefühle glaubt. Das Bäumchen-wechsle-dich-Spiel wiederholt sich im abschließenden dritten Akt in einem tollen, vom Outlaw Theseus angezettelten Tänzchen der Beliebigkeit. Das ganze Ensemble verrenkt sich, zuckt mit den Hüften, lockt wie eine zum Exzess getriebene Straßen-Gang. Das ist dem Premieren-Publikum einen besonderen Szenen-Applaus wert, meisterhaft variieren die Musiker Martin Lubenov (Akkordeon) und Imre Bozoki-Lichtenberger (Trompete), die zuvor beim Verlobungsfest von Ada und Theseus Balkan-Weisen gespielt haben, nunmehr Breakdance, Hiphop und ähnliche westliche Bräuche.

Einfach weg mit leichtem Gepäck

Spätestens in dieser Szene wird offenbar: In jedem Menschen steckt ein Monster, man muss es nur rauslassen können. Wenn aber Pasiphaë und Ada darüber kurz vor Schluss zu philosophieren beginnen, ehe die Tochter mit leichtem Gepäck abreist, dann ist das entbehrlich. Auch die vorwurfsvollen Dialoge des Ehepaares und des Meisters zuvor haben etwas Gestelztes, die sonst so bravourös agierenden Schauspieler wirken da punktuell verunsichert und gar nicht authentisch. Aber das sind Details in einer Inszenierung mit viel Witz und Ironie, die in ihrer dunklen Zeitlosigkeit stärker ist als in den etwas funktionslosen Passagen über die europäischen Probleme der Gegenwart.

Über die setzen sich ganz zum Schluss die beiden Bauarbeiter in einem luftig-leichten Bild hinweg. Der Meister und Iko haben das Labyrinth betreten, aus dem angeblich niemand herausfinden kann. Auf Schnüren werden die Bauteile des verwinkelten Hauses hochgehoben, im Hintergrund rollt die Hausherrin den Ariadne-Fade ab und nähert sich der Rampe, um Vater und Sohn zu helfen. Die aber sind damit beschäftigt, mit einer Feder zu spielen. Der nächste Auftrag wartet, der nächste Mythos. Fliegen müsste man können.

Inline Flex[Faktbox] URAUFFÜHRUNG: Dinev-Stück("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.04.2007)

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