„Religion ist ein Tabubruch wie einst Sexualität“

Die Teilnahme eines „Schwulen-Heilers“ sahen auch die Grazer Psychiater Walter Pieringer und Michael Lehofer skeptisch. Doch das Gespräch zwischen Religion und Wissenschaft befürworten sie.

Wie viele Menschen hätten sich wohl aufgeregt, hätte das Organisationskomitee des Kongresses zu „Religiosität in Psychiatrie und Psychotherapie“ statt eines Exorzisten einen Schamanen geholt? Wie groß wären die Proteste wohl gewesen, hätte statt einer zugegeben religiös-konservativen Schlagseite eine religionsfeindlich-linke dominiert? Der Hauptorganisator Ralph M. Bonelli hätte sich jedoch die Möchte-gern-Teilnehmer genauer ansehen müssen.

Die Organisation „Wüstenstrom“, deren Leiter Markus Hoffmann ursprünglich einen Workshop halten hätte sollen, ist ein Ableger der US-amerikanischen „Desert Stream Ministries“. Deren Gründer Andy Comiskey führte die Homosexualität auf eine gebrochene Beziehung zu Jesus Christus zurück. Wie viele Menschen sind wohl an dieser These zerbrochen? Sicher Günter Baum, der nach seiner Bekanntschaft mit „Desert Stream“ in Deutschland die später von Markus Hoffmann übernommene Organisation „Wüstenstrom“ gründete: Seine angestrebte „Heilung“ blieb Illusion, heute leitet er die Schweizer Organisation „Zwischenraum“, die Menschen helfen soll, ihre Homosexualität anzunehmen. „Wüstenstrom“ dagegen versucht Menschen, die an ihrer Homosexualität leiden, ohne jeden wissenschaftlichen Hintergrund zu „therapieren“.

„Es gibt keine wertneutrale Wissenschaft“

Andererseits: Was hätte dagegen gesprochen, eine solche Haltung auf dem Kongress in die Diskussion zu bringen? „Wenn man Religion ins Gespräch mit Wissenschaft bringt, muss man auch liberale mit theologischen Positionen konfrontieren“, meint Walter Pieringer, Vorstand der Uni-Klinik für Medizinische Psychologie in Graz und Mitglied des wissenschaftlichen Kongress-Beirats: „Es gibt keine wertneutrale Wissenschaft. Und ob wir's tun oder nicht, der Diskurs zwischen Religion und Wissenschaft wird weitergeführt.“

„Ich sehe jetzt, wo der Hoffmann-Workshop abgesagt ist, keinen Grund, aus dem Beirat auszuscheiden“, erklärt auch Michael Lehofer von der Grazer Sigmund Freud Klinik. „Ein Kongress, in dem es auch um Religion geht, muss mit dem nichtwissenschaftlichen Aspekt in Dialog treten. Das heißt ja nicht, dass jeder Teilnehmer dadurch wissenschaftlich legitimiert wird.“

Bonelli selbst sieht die Aufregung auch als Folge des „Tabubruchs“. „Religiosität war für viele Therapeuten und damit für viele Patienten tabuisiert, wie vor 40 Jahren Sexualität. Heute gibt es eine neue Sachlichkeit, weil praktisch tätige Psychiater sehen, wie wichtig die Dimension für viele Patienten ist. Etliche Studien im Journal der APA (American Psychiatric Association) haben zuletzt gezeigt, dass Religiosität sehr positiv wirken kann. In Europa wollen das viele nicht wahrnehmen, weil nicht sein kann, was nicht sein darf.“ Der Kongress wird wahrgenommen: Über 700 Teilnehmer haben sich angesagt. sim

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.09.2007)

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