„Der kleine Wohlstand“ und „der frische Wind“

China-Kino: Die Austro-Doku „Jeder siebte Mensch“ vergleicht Lebenslagen in (Muster-)Dörfern.

„Heute wird ein Film gezeigt“, schallt die Lautsprecheransage übers chinesische Musterdorf Beisuzha, „die Schauspieler sind wir selbst ... ist ziemlich lustig!“ Heiter beginnt Jeder siebte Mensch, ganz unbeschwert wird diese vergleichende österreichische Filmstudie zu Gegenwart (und Zukunft) im ländlichen China von Elke Groen und Ina Ivanceanu (Bunica) aber nicht: Schon die anfängliche Lautsprecherdurchsage endet mit den Worten „Bitte warm anziehen!“.

Zwischen 2002 und 2005 bereisten die Filmemacherinnen China, anhand dreier sehr unterschiedlicher Dörfer schildern sie die Leben der zahlenmäßig mächtigsten Bevölkerungsgruppe, daher auch der Titel: Jeder siebte Mensch ist Bauer (bzw. Bäuerin) in China. In Beisuzha, 400km von Peking, beginnt es erwartungsgemäß: 1592 Einwohner (statistisch korrekt werden zu jeder Siedlung Eckdaten vorausgeschickt, etwa Anzahl der TV-Geräte, Telefone, Fahrzeuge) leben gemäß der Planung des gewählten Dorfkomitees. Die Einwohner der drei Orte ließ man auch selbst kleine Digitalfilme liefern: „Der kleine Wohlstand“ heißt hier, ganz wie das offizielle Politprogramm, der erste solche Kurzbeitrag und zeigt, nicht ohne Stolz, etwa Kühlschrank und Waschmaschine.

An der Wand eine Tafel, die verzeichnet, mit wie vielen Sternen die einzelnen Haushalte ausgezeichnet sind. Der Vorsteher erklärt im Detail, wofür: „Wohlstand, Redlichkeit, Geburtenplanung, Wissenschaft und Technik, Kindererziehung, Friedlichkeit, Kultur, Pflichterfüllung, Hygiene, frischer Wind...“ Mangelt es an den so wünschenswerten Sternen, fügt er an, wird man „von der Dorfgemeinschaft angespornt“.

„Go West“: Kapitalismus kommt

Das soll progressiv klingen, lässt aber enormen Konformitätsdruck ahnen. Davor blitzen Schattenseiten des Lebens nach Vorschrift auf: Eine Frau schält mühselig Mais, Blatt für Blatt, erzählt, wie die Familie sich abrackert, „um zu verhindern, dass die Kinder auch am Feld arbeiten müssen“. Besser, sie könnten ein kleines Geschäft aufmachen.

Solche Eindrücke werfen auch Schatten in die nächsten beiden Episoden: San Yuan, eine kleine (502 Einwohner, ein Auto) Siedlung an den Himalaya-Ausläufern im Südwesten, ist seit 2003 auf Asphaltstraße erreichbar. Schon werden Tourismushoffnungen geschürt. Die Einwohner aus der Minderheit des Naxi-Volkes beleben ihre jahrzehntelang unter dem kommunistischen Regime verbotene Schrift und Naturreligion wieder.

Schließlich Jiangjiazhai (1774 Einwohner, 402 Familien, 402 Fernseher) in der größten landwirtschaftlichen „Experimentierzone“ in Zentralchina: Nebenan fördert Nestlé den Milchvertrieb, also gibt es seit kurzem (420) Kühe im Dorf, obwohl man eigentlich keine Milch trinkt. Der „Go West“-Plan soll den „kleinen Wohlstand“ von der Küste in das Landesinnere tragen, der Kapitalismus kommt (in offizieller Diktion: „Sozialismus mit chinesischem Gesicht“). Ein Einwohner liefert freilich den Kurzfilm „Formulare ohne Wirkung“, die Wahlen würden auch dauernd verschoben. Es endet in der Schule, gemeinsam wird aufgesagt, dass der Tod eines Patrioten schwer wiegt, derjenige eines Verräters, der sich „an die Faschisten verkaufte“, ist aber leicht wie eine Feder. Die Stimmen sind fest, aber Zweifel bleiben, nicht nur im Zuseher: Wohin weht der Wind der Zukunft?

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.11.2007)

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