Ibsen umgedreht: „Torvald“ als Opfer der Emanzipation

(C) TAG/ Judith Stehlik
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Wann ist Mann ein Mann?, fragt das TAG. Ein rasantes, gelungenes Stück.

Wer hätte das gedacht, damals, 1879, als Henrik Ibsens Nora bei ihrer Uraufführung in Kopenhagen erstmals ihren Mann verließ. Sie hatte gegen das Gesetz verstoßen, um ihn zu retten, er konnte seine „kleine Singlerche“ nicht als mündigen Menschen akzeptieren. Also ließ sie ihr Puppenheim mit Mann und Kindern zurück: „Ich muss mich davon überzeugen, wer recht hat, die Gesellschaft oder ich.“

Sie ist die literarische Patronin der weiblichen Emanzipation. Ihre Entscheidung würde heute nicht mehr verblüffen. Aber wer hätte das damals gedacht? Die moderne Nora hat sich nämlich, wie die Schweizer Regisseurin Rachelle Nkou sie zeichnet, längst mit der Gesellschaft abgefunden. Und so beginnt das Stück „Torvald“, das in Kooperation mit der freien Gruppe Das Gut sehr frei nach Ibsen im TAG uraufgeführt wurde: In einer postmodernen Leistungsgesellschaft leben Torvald (Alexander Braunshör) und Nora (Birgit Linauer) den perfekten Power-Wellness-Jetset-Lifestyle, Romantik wird mittels Sprachbefehl ins Schlafzimmer geladen. „Wir können einander auf zehn verschiedenen Sprachen ,Ich liebe dich‘ sagen“, ist Nora stolz. „Wir entsprechen den Anforderungen eines glücklichen Lebens.“

Arbeitsmantra und Instant-Seelsorge

Den Gipfelblick haben sie nicht nur aus dem Fenster, er bestimmt auch ihre Lebensplanung. Ihren Sprint an die Spitze inszeniert Nkou rasant, ironisch, mit verfremdeten Popsongs und einer Prise Orwell'scher Dystopie. Zwischen Ekstase und totaler Erschöpfung wird immer wieder in mantraartigen Sprechgesängen rezitiert, was im Leben wichtig ist: Fleiß, Arbeit, liebe dich selbst. Instant-Tipps für alle Lebenslagen gibt „Studio Linde, die Empfangsdame deiner Seele“ – eine elektronische Seelsorgerin mit Telefonschleifenstimme (Johanna Orsini-Rosenberg).

Aus dem Puppenhaus, aus dem die originale Nora ausbrach, wird ein kapitalistisches System, das den uniformierten Männern und Frauen das Äußerste abverlangt. Schwäche wird nicht geduldet, der Begriff Freiheit ist in der Datenbank dieser Zukunft nicht definiert. Und jetzt kommt das männliche Dilemma: Was, wenn er nicht mehr kann? Starke Frauen haben sich hochgearbeitet, sich freiwillig für die harte, maskuline Welt entschieden. Männer hatten nie eine Wahl. So wird Torvald zum Opfer, zur Puppe, die in sich zusammensackt: „Das Mannsein ist mir unerträglich.“

Am Ende: Tosender Applaus. Wer hat nun recht: Die Gesellschaft? Oder er?

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.11.2014)

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