Thalheimer: "Die Bühne ist kein Zoo"

Michael Thalheimer
Michael ThalheimerDie Presse
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Im Burgtheater hat kommenden Samstag Elfriede Jelineks Drama "Die Schutzbefohlenen" Premiere. Regisseur Michael Thalheimer spricht im Interview über Flüchtlinge, Urängste und über die Liebe der Wiener zum Theater.

Sie sind für Interpretationen klassischer und antiker Dramen bekannt. Was hat Sie gereizt, Elfriede Jelineks Flüchtlingsstück „Die Schutzbefohlenen“ als österreichische Erstaufführung im Burgtheater zu inszenieren?

Michael Thalheimer: Ich bin tatsächlich nicht bekannt für Ur- und Erstaufführungen. Mich interessiert nicht, ob ein Stück schon irgendwo gelaufen ist. In diesem Fall hatte ich zwei Gründe: Die Ereignisse, die Jelinek aufgreift, haben in Wien stattgefunden, die Votivkirche wurde von Flüchtlingen besetzt. Dieser Text muss in dieser Stadt einfach gezeigt werden. Die Uraufführung von Nicolas Steman in Mannheim habe ich nicht gesehen. Das Stück war am Burgtheater geplant, es kam nicht dazu, doch die Rechte lagen dann bei Steman. Erst danach war der Text frei. So kam es zur Verzögerung in Wien.

Und der zweite Grund?

Die antiken Strukturen – es geht in dem Stück auch um die „Schutzflehenden“ von Aischylos. Jelinek übernimmt wörtliche Zitate von ihm. Auch das war für mich ein Reizauslöser. Diese Autorin jongliert mit sehr vielen Bällen, sie hält viele gleichzeitig in der Luft. Ihre Sprache ist bewundernswert.

Was verbindet Sie sonst mit Frau Jelinek?

Ich kenne einige Texte von ihr, durch andere Inszenierungen und Lektüre, aber bei Weitem nicht alle. Das würde mich überfordern. Ich pflege auch keinen Kontakt zu ihr, denn ich habe Scheu vor Autoren. Deren Nähe würde mich eher irritieren oder hindern. Mir genügt der Text. Bei Jelinek ist es besonders angenehm, dass sie ihre Texte dem Theater frei zur Bearbeitung überlässt. Das ist doch besser als einstweilige Verfügungen von Brecht-Erben, wie jetzt beim von Frank Castorf inszenierten „Baal“ in München. Die Nachfahren glauben, den Geist des Autors zu kennen, seine Intentionen. Das ist doch alles falsch und kann nicht im Sinn Brechts sein. Theater kann Texte nicht zerstören, die bleiben doch. Regisseure können gute oder schlechte Inszenierungen machen.

Wie nähern Sie sich als Regisseur diesen vielen Stimmen im Stück?

Ganz pragmatisch interessiert mich das Chorische. Die Dichterin greift die Reden der Flüchtlinge und der Wiener Gesellschaft auf, sie verwendet Werbetexte und Heideggers Philosophie, Aischylos, und auch Sänger von heute kommen vor. Die Perspektiven wechseln, aber das Chorische ist durchgehend. Die Textmenge beeindruckt, es wäre aber falsch, sich ihr nur mit Ehrfurcht zu nähern. Mir genügt ein Höchstmaß an Respekt. Man muss das Werk strukturieren. Mir war von Anfang an klar, dass ich einen Chor haben will, aber keine Laien, sondern lauter Protagonisten. 16 tolle Schauspieler sprechen chorisch. Da musste natürlich gekürzt werden, damit es keine Überforderung wird. Wir streben Perfektion an.

Der Text hat mehr als hundert dichte Seiten. Wie lang soll der Abend werden?

Er muss nicht sechs Stunden lang sein, wie bei der Inszenierung von Jelineks „Sportstück“ durch Einar Schleef. Ich möchte dieses Drama, dessen realer Hintergrund vielen in Wien noch präsent ist, in unter zwei Stunden ohne Pause schaffen. Das ist anstrengend genug. Wir holen uns diese Geschichte noch einmal ins Gedächtnis und fungieren als eine eine Art Gewissen. Da wollen wir den Wienern nicht durch überzogene Dauer auf den Nerv gehen.

Was sind die wesentlichen Fragen zu dem heiklen Thema Flüchtlinge?

Fühlen wir uns noch wohl damit, wie Europa mit den Flüchtlingen umgeht? Oder sind wir beschämt darüber, dass die EU sich wie eine Festung gebärdet? Das Ausgrenzen ist kein spezifisch wienerisches Problem, es ist ein europäisches, wir alle sind Teil davon. Auch ich sitze in diesem Boot, das angeblich voll ist. Was schützen wir denn? Die abendländischen Werte, auf die sich diese Drecks-Pegida beruft? Das ist doch armselig. Es sind doch vielmehr christliche Werte wie Mitleid, Erbarmen und Menschlichkeit, die uns ausmachen sollten.

Solche Entscheidungen sollte man nicht abstrakt fällen, sondern konkret: Wie viele Flüchtlinge will ich persönlich aufnehmen?

Exakt. Das sollte man sich fragen.

Was ist die Fabel der Geschichte, die man im Burgtheater sehen wird?

Das ist hier schwieriger als in einer typischen Tragödie oder Komödie. Man weiß bei Jelineks Meandern nicht einmal, ob es ein Monolog oder drei oder gar hundert Stimmen sind. Wir wissen nicht einmal, ob das auf die Bühne gehört. Wir behaupten seine Berechtigung, weil wir den Text auf die Bühne holen. Die Geschichte ist für mich ganz einfach: Es war einmal in Wien, im Jahr 2012. Es kamen Flüchtlinge und suchten Asyl. Aufgrund der europäischen Politik hatten sie keine Chance. Sie hätten von Land zu Land ziehen müssen. Stattdessen besetzten sie eine Kirche, einen heiligen Ort, der ihnen eine andere Chance geben sollte, als weitergereicht zu werden. Einige der Flüchtlinge sind noch in Wien oder Umgebung, aber wohl nicht mehr lang.

Was kann das auslösen?

Wenn Menschen nach dem Theater mit dem Gedanken nach Veränderung nach Hause kommen, dann haben wir schon viel bewirkt. Allen Beteiligten ist aber bewusst: Wir sind keine Flüchtlinge, sondern hoch bezahlte Künstler im Burgtheater, die mit einem sehr komplexen Text arbeiten. Deshalb wäre es anmaßend und verboten, einen Flüchtling darzustellen. Natürlich war ich in der Votivkirche, natürlich habe ich mich mit Flüchtlingen unterhalten. Sie waren froh, dass ihre Geschichte noch einmal thematisiert wurde, und mir half es, mich solcherart von der Geschichte zu befreien.

Bei der Uraufführung von Stemann gab es im Vorjahr echte Flüchtlinge auf der Bühne.

Das halte ich für weit entfernt von Wahrhaftigkeit. Das ist eine Pose. Ich schätze zwar Stemann, der mit seiner Inszenierung zum Berliner Theatertreffen eingeladen wurde, trotzdem. Aber so etwas ist ein großes Missverständnis. Die Flüchtlinge hatten ihr Leid schon. Wieso sollten sie uns „Abendländlern“ auf der Bühne noch einmal erzählen, wie scheiße ihr Leben ist. Der Flüchtling auf der Bühne ist kein Flüchtling, er ist nicht mehr authentisch. Diese Art von missratener Pose hasse ich, ich lehne solch exhibitionistischen Porno ab. Die Bühne ist kein Zoo.

Bleiben wir bei Gefühlen: Haben Sie Angst vor Fremden? Angst vor dem Wasser?

Das Wasser ist eine bewusst eingesetzte Metapher der Angst bei Jelinek. Ich habe keine Höhenangst, aber Angst vor der Tiefe. Immer suche ich beim Schwimmen im Meer, das ich liebe, die Nähe zum Ufer. Die Angst vor dem Fremden teile ich auch. Es wäre doch wahnsinnig arrogant, mit dem Finger nur auf andere zu zeigen. Ich fühle mich behütet in dem, was ich kenne. So bin ich erzogen und sozialisiert. Das Fremde stört mein Terrain. Zugleich weiß ich, dass Gewohntes zum Gefängnis wird, wenn man das Fremde nicht zulässt. Das ist ein intellektueller Gedanke. Ich möchte klüger sein als meine Angst, ich möchte etwas lernen.

Welches Argument können Sie gegen jene Europäer anführen, die sagen, das Boot sei voll? Und welche Lösung gibt es denn bei einer Völkerwanderung?

Ich habe keine Lösung. Mich beschämt einerseits unser aller Verhalten gegenüber den Flüchtlingen, anderseits bin ich ratlos, wenn Sie mich so direkt fragen. Ich bin weder Politiker noch Soziologe noch Philosoph. Das ist ein ganz anderes Terrain, auf das wir uns eben begeben. Ich bin Theaterregisseur. Ich habe derzeit eine einzige Verantwortung: Jelineks Text „Die Schutzbefohlenen“ fürs Burgtheater. Ich kann nur das Bewusstsein zu diesen Fragen heben. Wenn es Menschen verändert, indem es wie ein Seismograf Verletzungen aufzeigt, ist schon etwas getan.

Wo bleibt die Moral?

Das Wort hat in unserer Gesellschaft ein Geschmäckle. Es klingt spießig. Das ist spannend, denn uns fehlt eben die Moral. Sie ist uns im Kapitalismus gänzlich abhandengekommen. Wir verstecken uns nur noch hinter Ironie und Zynismen. Solch ein Leben ertrage ich schwer. Hauptsache, wir haben unseren kleinen Wohlstand und werden in Frieden gelassen. Und nach uns ist gar nichts mehr. Nach uns die Sintflut.

Der griechische Verteidigungsminister, ein national gesinnter Rechtsextremer, hat gedroht, Heere von Flüchtlingen in andere EU-Länder zu schicken. Was halten Sie davon?

Das ist hilflos, aus der Not gesprochen, gar nicht legitim. Man sollte sich nicht gegenseitig Dinge vorwerfen. Was jetzt zwischen Griechenland und den anderen EU-Ländern fehlt, ist der Dialog.

Wie schätzen Sie die Regierung der Bundesrepublik Deutschland ein?

Ich habe sie zwar nicht gewählt, gehöre aber nicht zu den Hassern der Bundeskanzlerin. Einiges von dem, was Angela Merkel tut, finde ich nicht richtig, ich habe aber hohen Respekt vor vielem, was sie leistet. Auch Außenminister Frank-Walter Steinmeier macht einen guten Job. In der Mitte, im Maß, liegt viel Weisheit.

Sie wurden gefragt, ob Sie das Burgtheater leiten wollen. Tut es Ihnen leid, dass Sie nicht Direktor geworden sind?

Ich fühlte mich geehrt von der Anfrage, liebe es, am Burgtheater zu arbeiten, und schätze das Ensemble wie auch die Technik über alles. Die Politik hat anders entschieden. Am ersten Tag war ich traurig, am zweiten Tag wütend, am dritten Tag erleichtert. Die Erleichterung hält bis heute an. Ich bin auch in keiner Weise neidisch und kann Karin Bergmann nur zu ihrem Job gratulieren. Sie hat eine schwierige Aufgabe zu meistern. Aber im Burgtheater ist auch grenzenlos viel möglich, allein schon wegen des Wiener Publikums, das dieses Haus grenzenlos liebt.

Steckbrief

Michael Thalheimer, 1965 in Frankfurt am Main geboren, stand nach dem Studium des Schauspiels in Bern auf verschiedenen deutschsprachigen Bühnen. 1997 führte er erstmals Regie, in Chemnitz. Es folgten u. a. Inszenierungen in Freiburg, Basel, Leipzig, Dresden, Hamburg, Berlin, Frankfurt a. M. sowie in Frankreich. Seit 2005 ist er auch an Opernhäusern tätig. Am Burgtheater hat er seit 2010 inszeniert: „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“, „Elektra“ sowie „Maria Magdalena“.

„Die Schutzbefohlenen“, Elfriede Jelineks Stück, hat an der Burg am 28. März (19.30 Uhr) die österreichische Erstaufführung. Regie: Michael Thalheimer. Die Uraufführung war im Mai 2014. Nicolas Stemann inszenierte eine Ko-Produktion des Festivals Theater der Welt, Holland-Festival Amsterdam und Thalia-Theater Hamburg. Die Inszenierung wurde für das Theatertreffen 2015 und auch die Mülheimer Theatertage nominiert.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.03.2015)

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