Achselzoom für Selbstdarsteller

Chris Haring
Chris Haring(c) Die Presse - Clemens Fabry
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Chris Haring überzeichnet in seinem neuen Stück „False Colored Eyes“ den Drang zur Selbstinszenierung. Die Avatare der Generation Smartphone lassen grüßen.

Immer näher kommt die Kamera. Sie streift mit ihrem Blick über das Gesicht, den Nacken, die muskulösen Arme, die die Haare hoch über den Kopf halten, beginnt mit unverschämter Neugier die Achselhöhle auszuleuchten, zoomt sich immer weiter heran, bis man die Vertiefung jedes einzelnen abrasierten Haares als unwirklich vergrößerten Krater auf der riesigen Videowand erkennen kann, die am Bühnenrand alle Aufmerksamkeit auf sich zieht.

Von so intensiver Intimität fühlt man sich als Zuschauer peinlich berührt, es ist fast so, als hätte man aus Versehen im Kino den falschen Eingang erwischt und wäre in einem Pornofilm gelandet. Eine Fleischbeschau ist das hier jedenfalls, eine Zurschaustellung von Körperteilen, die bis zur Unerträglichkeit herangezoomt und ausgeleuchtet werden. Ein Achsel- und Mundhöhlenporno, der den Menschen, der hier gezeigt wird, völlig in den Hintergrund drängt, der sich angeberisch und aufdringlich auf der Videowand ausbreitet und so alle Aufmerksamkeit von den Tänzern und Tänzerinnen weg auf die virtuelle Vermittlung ihrer Einzelteile zieht – auf einen aufgesetzt fragenden Blick, ein hohles Lachen, ein hörbares Augenklimpern, gebleckte Vorderzähne, ein zitterndes rosa Gaumenzäpfchen.

Chris Haring nimmt mit seiner Compagnie Liquid Loft in „False Colored Eyes“, das am Mittwoch im Kasino am Schwarzenbergplatz Premiere hatte, die Selbstdarstellungshysterie der Generation Smartphone ins Visier. Er überzeichnet auch in diesem zweiten Teil seiner Performanceserie „Imploding Portraits Inevitable“ den durch soziale Medien wie YouTube oder Facebook geschürten Drang, ständig ein geschöntes Bild von sich selbst zu vermitteln und die Außenwelt bis zum Exzess an intimen Lebensinhalten teilhaben zu lassen. Inspiriert wurde Haring von Andy Warhols Experimentalfilmen aus den 1960er-Jahren. In seinen „Screen Tests“ porträtierte Warhol die Protagonisten mittels einer Nahaufnahme von ihren Gesichtern – drei Minuten lang ließ er die Kamera darauf, einen vollständigen Durchlauf einer 16-Millimeter-Filmrolle lang. Haring führt Warhols Idee weiter. Bei ihm wird die Kamera aktiv. Die Tänzer filmen einander oder sich selbst und spielen die Bilder, die noch näher treten als Warhol seinen Kandidaten bei den „Screen Tests“, teilweise live auf die Videowand.

Der Avatar bleckt die Zähne

Dort erstehen die Personen neu, sie wirken verfremdet, die Bewegungen von Zeitlupen, Verdoppelungen und sich wiederholenden Loops verzerrt – wie computeranimierte Avatare, die nur entfernt an denjenigen erinnern, der als Vorlage dient. Diese künstlichen Figuren auf der Leinwand stellen die Menschen bloß, die sich bereitwillig vor der Kamera räkeln, das T-Shirt hochziehen, die Zähne blecken, während aus dem Off ein amerikanischer Werbespot dröhnt. Ja, wir wollen so schön, so begehrt sein und so weiße Zähne haben, wie es uns die Werbeindustrie vorsagt! Haring überträgt das Maskenhafte dieser Videosequenzen, das dadurch verstärkt wird, dass die Tänzer immer wieder eingespielte Filmdialoge mit den Lippen nachsprechen, auf die Protagonisten. Er lässt die Darsteller technische Raffinessen übernehmen. Sie bewegen sich in Wiederholungen, scheinen abrupt einzufrieren oder pendeln steif wie die Puppen hin und her, als hätte jemand ein Stehaufmännchen angetippt. Auf dem Weg zur Selbstinszenierung ist jedes Mittel recht, und während der zur Schau gestellte Individualismus gefeiert wird, bleibt das Individuum verborgen.

„False Colored Eyes“: 5.–9., 12. u. 13. Mai, 20Uhr, Kasino am Schwarzenbergplatz, www.impulstanz.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.05.2015)

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