Festwochen: Gogol mit ziemlich viel Testosteron

(c) Wiener Festwochen/Alex Yocu
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Im Volkstheater gastiert das Gogol-Zentrum Moskau mit Kirill Serebrennikows Inszenierung der „Toten Seelen“. Rabaukig und derb, körperbetont und laut, lauter, lautest. Und dabei doch poetisch. Ob das noch Gogol ist? Egal!

Es gibt Romane. Und es gibt Poeme. Und wenn schon die Dramatisierung von Romanen meist scheitert, ja sich die Frage aufdrängt, warum überhaupt jemand sich daran versucht hat, zumal wenn vom selben Autor auch großartige Stücke erschienen sind: Dann gilt das erst recht für ein Poem wie Nikolai Gogols „Die toten Seelen“. Ein Text, der weniger durch die Handlung besticht – ein Betrüger kauft die Namen von gestorbenen Leibeigenen auf und macht damit Geld –, sondern durch sein lustvolles Spiel mit den Elementen des Romans, mit unseren Erwartungen. Da erzählt er etwa vom Gesinde und bricht ab, wenn's gerade so richtig interessant wird: Ach, die liebe Leserschaft will doch eh nichts vom niederen Volke wissen! Ätsch. Dafür verliert er sich in der Folge seitenlang in den kuriosesten Betrachtungen, einmal satirisch, einmal poetisch, manchmal sentimental. Wobei ihm ein Sessel oder eine Uhr als Ausgangspunkt schon reicht.

Und dann sitzen wir im Volkstheater vor einer bis auf ein paar Autoreifen leeren Bühne und grübeln. Wie soll das gehen?

Es geht. Wie? Mit Frechheit! Gogols Ton zu treffen hat Regisseur Kirill Serebennikow gar nicht erst versucht: Da ist nichts elegant oder raffiniert, und statt dass wir uns über die überkandidelte russische Oberschicht und ihre Schmeicheleien amüsieren, werden wir sogleich mit unglaublicher Lautstärke attackiert: Ein halbes Dutzend Kraftprotze erobert da die Bühne, tobt über die Autoreifen, dass einem angst und bange wird, treibt miteinander derbe Spiele. Die russische Gesellschaft, sie ist auf dem Boden der Brutalität angekommen.

Eine Art Madoff des Zarenreichs

Und dann ist da noch: Pawel Iwanowitsch Tschitschikow. Bei Gogol ist er der betrügerische Vertreter eines ruinösen Kapitalismus: eine Art russischer Bernard L. Madoff der Zarenzeit, der Lücken im System aufspürt, um sie für sich zu nutzen: Als reich galt, wer viele „Seelen“, also Leibeigene, vorzuweisen hatte. Diese wurden alle paar Jahre gezählt, aber für jene Seelen, die dazwischen starben, zahlten Gutsbesitzer Steuern. Tschitschikow nimmt den Gutsbesitzern netterweise all diese teuren Verstorbenen ab, dafür ist er am Ende auf dem Papier reich – und nutzt diesen Reichtum zum Betrug. Ihm geht es um Geld, um sonst nichts.

In der Produktion des Gogol-Zentrums ist Tschitschikow ein Getriebener: Odin Biron spielt ihn, er ist der Schmälste der Truppe, trägt dreiteiligen Anzug und Brille, ein Buchmensch, der gern den Notizblock zückt und sich hinter seinem Aktenkoffer versteckt. Wenn das der böse Kapitalist sein soll, ist er ziemlich erbärmlich. Großartig, wie er von einer absurden Situation in die nächste stolpert: Kaum ist er den tumben Buben des naiven Manilow entronnen, gerät er in die Fänge der Witwe Karobotschka. Beim Trinker und Spieler Nosdrew geht es ihm fast an den Kragen. Und ein verhandlungsstarkes Ehepaar knöpft ihm für die Toten sogar 25 Rubel ab!

Das ist komisch und manchmal übertrieben, mit viel Spaß an Slapstick. Und alle, alle werden von Männern gespielt! Sie sind laut und grausam, sehr lebendig und sehr gierig, auch wenn sie dazwischen sentimental ein paar Chansons singen: Großartig, wie da ein missratener Sohn sich das Mikro schnappt, zuerst ein paar schiefe Töne singt, gar nicht zu vergleichen mit seinem musischen Vater, der so gern feingeistig über die Natur und ihre Geheimnisse nachdenkt. Aber wer nicht singen kann, kann immer noch grölen: So fällt denn der grobe Sohn mit zwei anderen in einen Kampfgesang ein.

Gogols Poem „Die toten Seelen“ sollte ursprünglich mehr sein als eine bös-satirische Betrachtung der russischen Seele: Es wollte eine Perspektive anbieten, einen Ausblick, eine Hoffnung auf Erneuerung, doch dazu kam es nie: Den geplanten dritten Teil hat er nie begonnen, der zweite Teil ist nur in Fragmenten erhalten, das Originalmanuskript hat Gogol kurz vor seinem Tod verbrannt. Er ist mit dem Versuch einer (Ehren)-Rettung Russlands gescheitert.

Regisseur Kirill Serebrennikow versucht sie erst gar nicht. Diese Inszenierung – die Uraufführung war vor der Eskalation in der Krim und der Ukraine – zeigt eine von Macht und Testosteron besessene Gesellschaft, die kraftvoll ist und gerissen, selbstzufrieden und brutal. Am Ende muss Tschitschikow fliehen. Mit seiner ausgetüftelten Betrügerei, mit seinen raffinierten Verhandlungskünsten hatte er nie eine Chance: Er ist, was er bei Gogol nur kokett behauptet hat zu sein: ein armes Würmchen. Russland ist stärker.
Wohin er fliehen wird? Wir behaupten: in den Westen.

„Tote Seelen“, nach Gogol, Volkstheater, 22. und 23. Mai, in russischer Sprache mit deutschen Übertiteln.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.05.2015)

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