Intendanten: Theater wird jetzt alles

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Die neuen Intendanten kommen und mit ihnen andere Schwerpunkte, Themen und Ansätze.

„Unerfahren und völlig überfordert! Die größte Fehlbesetzung des Jahrzehnts!“ Claus Peymann, Intendant des Berliner Ensembles, kritisierte heuer im April heftig den Berliner Bürgermeister Michael Müller sowie Kulturstaatssekretär Tim Renner. Fix ist: Berlin baut seine Theaterlandschaft um. Zwei „Saurier“ der 1968er-Generation treten ab: Peymann, 78, und Frank Castorf, 63. Peymann wird 2017 am Berliner Ensemble von Oliver Reese, 51, abgelöst, Castorf an der Volksbühne von Chris Dercon, 57. Radikale Verjüngung schaut anders aus. Trotzdem könnte sich die Theaterszene in den nächsten Jahren stark verändern: Noch mehr Crossover, aktuelle Themen, Alltagsgeschichten, Performance, die klassischen Klassiker-Inszenierungen entschwinden, der klassische Kanon schrumpft, neue Stücke gehen endgültig in Führung. Bei den heurigen Festwochen hat man es bereits gesehen: Simon Stone hat Ibsens „Borkman“ am Text entlang modernisiert und neu geschrieben. Ewald Palmetshofer fasste Christopher Marlowes „Edward II.“ in seine eigene Kunstsprache.

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Kunstkurator. Wer sind nun also die neuen Intendanten? Chris Dercon, der die Berliner Volksbühne übernimmt, studierte Kunstgeschichte, Theaterwissenschaften, Filmtheorie. Er war Journalist und von 2003 bis 2011 Direktor des Hauses der Kunst in München. Derzeit führt Dercon die Tate Modern in London. Oliver Reese, bald Chef des Berliner Ensembles, studierte Literatur-, Theaterwissenschaft und Komparatistik. Er war Chefdramaturg am Gorki-Theater Berlin und am dortigen Deutschen Theater. Seit 2009/10 leitete Reese das Schauspielhaus in Frankfurt/Main.

Matthias Lilienthal, der kommenden Herbst von Johan Simons – der zur Ruhr-Triennale wechselt – die Münchner Kammerspiele übernimmt, ist Berliner. Der 55-Jährige studierte Geschichte, Germanistik, Theaterwissenschaften, brach das Studium aber nach zehn Jahren ab, wurde Dramaturg bei Intendant Frank Baumbauer in Basel und Chefdramaturg bei Frank Castorf an der Volksbühne. Zuletzt leitete Lilienthal das Hebbel-Theater, kurz HAU, tatsächlich ein „verrückter“ Ort für Experimente.

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Auch in Wien ist ein bisschen etwas los: Anna Badora, die im Herbst von Michael Schottenberg das Volkstheater übernimmt, setzt auf neue Leute, neue Formate – etwa mit Laien („Die Fleischhauer von Wien“). Erstmals kommt in Kooperation mit den Festwochen 2016 das Kopenhagener Performance-Kollektiv Signa in die Stadt: Ihre Spezialität sind komplette Environments, bei denen Zuschauer mitwirken, etwa als Patienten im Spital.
Spannende Impulse versprechen auch die jüngst bekannt gegebenen Neubesetzungen in Niederösterreich: Die 1967 geborene Mistelbacherin Marie Rötzer, die Theaterwissenschaft und Germanistik studierte und 1993 als Dramaturgin am St. Pöltener Stadttheater begonnen hat, wird 2016 das nunmehrige NÖ-Landestheater übernehmen. Rötzer war zwischenzeitlich unter anderem Dramaturgin an der Off-Plattform Gessner-Allee in Zürich, Kuratorin der Theater-Biennale Neue Stücke aus Europa in Mainz und Wiesbaden und Referentin des Intendanten Joachim Lux (der vom Burgtheater ans Hamburger Thalia-Theater wechselte).

Thomas Edlinger wiederum, gleich alt wie Rötzer, wird ab 2017 als Nachfolger von Tomas Zierhofer-Kin, der die Wiener Festwochen übernimmt, Intendant des NÖ-Donaufestivals, das alljährlich mit einer vielfältigen Mischung aus Musik, Installationen, Performance, Diskurs und Film aus der Not, sich vom gewaltigen Wiener Kulturangebot abzuheben, eine Tugend gemacht hat. Edlinger hat Philosophie, Publizistik und Germanistik studiert, bekannt geworden ist er als Radio-Moderator bei den Sendern FM4 und Ö1.

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Mehr Geld. Die meisten der neuen Intendanten haben sogenannte Orchideenfächer studiert und sind viel auf der Welt herumgekommen. Zum Unterschied von der älteren Generation wurde die jüngere bei ihrem Plan, die geistige Weiterentwicklung nicht nur als Hobby, sondern professionell zu betreiben, unterstützt. Früher sagten Väter und auch manche Mütter: „Was, Theaterwissenschaften? Kommt nicht infrage! Studier gefälligst Jus!“ Die meisten Intendanten sprechen mehrere Sprachen. „Neubürger“ oder Migranten sind im Theater noch immer unterrepräsentiert. Aber es wird: Man betrachte nur die Kreationen von Jacqueline Kornmüller oder die Brunnenpassage. Als Gesamtkunstwerk am Puls der Zeit war das Theater immer wieder in seiner langen Geschichte, etwa in den 1920er- und 1930er-Jahren vor der NS-Zeit oder in den 1960er- und 1970er-Jahren. Nun kommt vielleicht ein neuer Schub. Hofft man mit dem Ende der oft unbequemen „Genies“ und Einzelkämpfer der 1968er, die Politiker vor sich herzutreiben verstanden, auf konziliantere Charaktere, die gesellig sind und Sponsoren auftreiben, wenn wieder einmal ein Sparpaket droht? Vielleicht. Das Budget der Volksbühne wird für Dercon allerdings angehoben, und auch das Wiener Burgtheater bekommt nach seinem Finanzskandal mehr Geld. Als eine am Ort direkt wirksame Kulturinstitution, die Frieden, Verständnis und Integration fördern kann, ist die Bühnenkunst wohl anerkannt, jedenfalls in deutschsprachigen Landen. Das Theater muss aber sehr wohl heiße Eisen angreifen, und das tut es. Lilienthal arbeitet mit Kollektiven wie Rimini Protokoll, She She Pop oder Gob Squad zusammen: Rimini Protokoll zeigte in Wien bei den Festwochen auch Doku-Theater über Erdöl-Arbeiter in Kasachstan; She She Pop erzählten anhand von Strawinskis „Sacre du Printemps“ eine Geschichte des weiblichen Opfers; die deutsch-britische Gruppe Gob Squad ist am nächsten bei der Ästhetik der Pop- und TV-Branche, prägendes Element in den Sehgewohnheiten von immer mehr Menschen, speziell den jungen. Seine erste Saison an den Müncher Kammerspielen im September eröffnet Lilienthal mit „ShabbyShabbyApartements“: Im öffentlichen Raum, auch in Nobelgegenden, werden 24 Sozialwohnungen errichtet, jeder kann dort einmal übernachten und davon erzählen. Darin besteht die Vorstellung. Mehr Subkultur im Salon. Gut so.

Tipp

ShabbyShabbyApartements von Raumlaborberlin, Probewohnen im öffentlichen Raum, von 12. 9. bis 13. 10., Münchner Kammerspiele, ab Herbst unter Intendant Matthias Lilienthal (HAU). Ab 9. 10. Shakespeare „Der Kaufmann von Venedig“ (Regie: Nicolas Stemann).

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