„Niemand“: Verschollenes Stück von Ödön von Horváth

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Archivbild - �d�n von Horvath(c) APA (Zsolnay Verlag 2001)
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Die Wienbibliothek hat das Typoskript des vor 1924 entstandenen, bisher unpublizierten Stücks um 11.000 Euro erworben. Nun verwaltet der Sessler-Verlag die Verwertungsrechte. Die Theater werden sich heftig um das grelle anti-moralische Drama bemühen.

„Wer zwingt mich zu leben?“, schreit der verkrüppelte Hausherr Fürchtegott Lehmann: „Niemand!!“ Er ist die zentrale Figur im Drama „Niemand“, eines Frühwerks des österreichisch-ungarischen Schriftstellers Ödön von Horváth (1901–1938). Das Typoskript – 95 maschinengeschriebene Seiten, gelocht und geklammert – trägt den Untertitel „Tragödie in sieben Bildern“ und den Copyright-Vermerk „1924 by Verlag ,Die Schmiede‘“.

Dieser Berliner Verlag, bei dem unter anderm Kafkas „Ein Hungerkünstler“ zum ersten Mal publiziert wurde, endete 1928 in der Insolvenz: „Friede seiner Pleite“, kommentierte Tucholsky, der dem Verlag skrupellose Geschäftemacherei vorwarf. Horváths „Niemand“ – sein drittes Theaterstück nach „Das Buch der Tänze“ (1922) und „Mord in der Mohrengasse (1923) – jedenfalls ging verloren. Ans Licht kam das Typoskript erst wieder in den Neunzigerjahren bei einem Auktionshaus in Pforzheim, der einzige Bieter kaufte es– und warf es im März 2015 wieder auf den Markt, bei der Autografenaktion des Auktionshauses J.A.Stargardt in Berlin, der Schätzpreis betrug 8000 Euro. Die Wienbibliothek hat es um 11.000 Euro ersteigert, ein Geringes, bedenkt man, dass Horváth bis heute zu den beliebtesten Theaterautoren zählt.

Einnahmen gehen an die Bibliothek

Gestern war das Typoskript in der Wienbibliothek im Rathaus kurz zu sehen, nun liegt es beim Wiener Theaterverlag Sessler, der die Rechte für einige Horváth-Stücke hält: Er wird „Niemand“ möglichst schnell als Broschüre auflegen und die Verwertungsrechte dafür verwalten. Die Einnahmen aus Theateraufführungen werden aber in die Wienbibliothek zurückfließen und für die Handschriftensammlung verwendet werden.

Betrachtet man das Typoskript, fällt einem sofort die für expressionistische Texte typische Flut an Gedankenstrichen (–––) auf. (Und vielleicht, dass Horváth kein „ß“ verwendete.) Das Stück wirkt laut und grell, ein Frühwerk, gewiss, doch es hat schon eine für Horváth charakteristische Qualität: Hier ist keiner entweder gut oder böse, alle sind getrieben, in ihr Schicksal geworfen. „Siehst du: ich lebe“, sagt die Hauptfigur Lehmann. „Bin da, ob ich will oder nicht.“ Er ist geldgieriger Hausbesitzer – schon im ersten Bild will er den armen Musiker Klein delogieren –, zugleich aber als Krüppel bemitleidenswert.

Zurückweisung des Mitleids

Das Mitleid allerdings ist Lehmann zuwider: In einer der härtesten Szenen verzweifelt er, weil die Dirne Ursula zugibt, dass sie ihn „nicht nur fürs Fressen“, sondern auch aus Mitleid heiraten wollte. Widerpart ist sein Bruder Kaspar: Er wurde vom Vater auf die Straße geworfen, weil er stärker als Fürchtegott war. So erzeugt das Mitleid erst recht nur neues Leid. Am Ende stirbt der Krüppel, die Krücken verschwinden wundersam, es triumphiert der Bruder, der sich auf den „Willen zur Macht“ beruft. Der frühe Horváth war offenbar Nietzscheaner.

Die namengebenden Begriffe von Horváths neben „Geschichten aus dem Wiener Wald“ und „Kasimir und Karoline“ am häufigsten aufgeführtem Stück „Glaube Liebe Hoffnung“ (1932) werden schon in „Niemand“ verworfen. „Manchmal glaube ich, ich habe keine Seele“, sagt Ursula. Ein vermeintlicher Goldring mit der Inschrift „Und die Liebe höret nimmer auf“ stellt sich als vergoldetes Blech heraus. „Ohne Hoffnung, unheilbar“ sei er, sagt Lehmann. „Manchmal glaube ich, hier wäre die Hölle.“ Ursula antwortet knapp: „Hier ist die Hölle.“

Man kann gefahrlos vorhersagen, dass sich die Theater um „Niemand“ reißen werden. Spannend wird, wer dieses Horváth-Stück 91 Jahre nach seiner Entstehung uraufführen wird. Das Burgtheater zeigte sich bereits interessiert, auch aus Dresden und Amsterdam kamen Anfragen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.09.2015)

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