Theater TAG: Als das Weib die Bibliothek enterte

Eine echte Überraschung: Margit Mezgolich überwältigt Elias Canettis monumentalen Roman "Die Blendung" mit Witz und wohldosierter Schaurigkeit.

Und im Theater siehst du gar nichts/weil du den Handschuh suchst von ihr/oh lass ein Weib an dich heran!“, stöhnt Professor Higgins musikalisch in der „My Fair Lady“. Die Frau verunsichert den kreativen Mann, eine Art Kastrationsangst. Im Zeitalter der Gleichberechtigung kennen auch Damen das dunkle Gefühl: Dieser Kerl torpediert meine Selbstverwirklichung.

In Elias Canettis fast 600 Seiten dickem Roman „Die Blendung“ (1935) geht es um mehr: Sinologe Peter Kien (40) heiratet seine Haushälterin (57). In acht Jahren treuem Dienst hat die rustikale Frau ihn überzeugt, dass seine gewaltige Bibliothek bei ihr bestens aufgehoben ist. Auch Kiens „Splendid Isolation“ soll von Therese mit dem blauen Rock ungestört bleiben. Ein fataler Irrtum. Der erbarmungslose Ehekrieg des Geistesmenschen mit dem späten Mädchen aus dem Volk bringt Kien mit grotesken Typen zusammen, von denen er keine Vorstellung hatte. Zuletzt verliert er den Verstand.

Figuren überwältigen den Erzähler

„Die Blendung“ erinnert daran, dass Canetti vielen als der bessere Thomas Bernhard gilt. Auf jeden Fall erinnert das Buch an Franz Kafkas Psycho-Labyrinthe. Gernot Plass' Theater an der Gumpendorfer Straße (TAG) kümmert sich u. a. um Klassiker-Transfer ins Heute, was etwa mit „Faust“ gelungen ist, und jetzt erstaunlicherweise mit der „Blendung“.

Ein Erzähler tritt auf, er beruhigt das Publikum, es werde nur eine Lesung des Romans geben. Während sich der Zuschauer fragt, ob da etwas schiefgegangen ist, berichtet der Büchermensch genannte Berichterstatter (Jens Claßen) von einer Begegnung mit Canetti als Neunjähriger am Zürcher See. Auch Kien trifft zu Beginn des Buchs einen Knaben. Schon schauen die Romangestalten aus den Kulissen hervor. Was ist hier wahr, was erfunden? Und nun beginnt die Geschichte vom armen Kien (Alexander Braunshör), in dessen Klause sich Therese Krumbholz (Petra Strasser) breitmacht.

Die Grenzen zwischen den Figuren verschwimmen wie in einem Albtraum. Es gibt eine junge Therese und Therese als „Mann im Haus“. Es gibt den Hausbesorger, dessen grauenhafte Misshandlung von Frau und Tochter, die er einsperrt und prügelt, an Ereignisse der Gegenwart erinnert. Margit Mezgolich hat inszeniert, filmisch, mit einer wohldosierten Mischung aus Witz und Schaurigkeit. Die Aufführung erinnert an E. T. A. Hoffmann und an Karl Kraus, den Canetti bewundert hat. Mezgolich deckt das sonderbare Verhältnis vieler bedeutender Männer zum weiblichen Geschlecht auf. Sie bezieht sich aber auch auf die Entstehungszeit des Romans – zwischen Prosperität, Wirtschaftskrise und dem Kippen in die Diktatur in den 1930er-Jahren. Auch „Masse und Macht“, eines der Hauptwerke des Literaturnobelpreisträgers Canetti, in dem er die Verwandlung von Menschen in Bestien analysiert, wird zitiert. Flotte Musik verbreitet Glücksversprechen, es spielt den Schlager: „Das gibt's nur einmal, das kommt nicht wieder!“ Dann überwältigen die Figuren fast den Erzähler. Insgesamt: Ein interessanter Abend im TAG.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.03.2016)

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