Volkstheater: Iwanow, nackt, wie Tschechow ihn schuf

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Victor Bodos Wiener Inszenierung ist trotz einiger platter Passagen eine gelungene Melange aus lustigen Einfällen und differenzierter Melancholie. Das Ensemble darf glänzen - ein Höhepunkt der bisher durchwachsenen Saison.

Ist es Ungarn in der leicht autokratischen, moralisch zweifelhaften Zeit von heute, das Bühnenbildner Lörinc Boros symbolisieren will? Oder doch das Zarenreich in seiner Spätphase, das wieder einmal eine große Reform vermasselt hat – was Russlands Elite in Lethargie verfallen lässt? In die verspielte Inszenierung von Anton Tschechows frühem Drama „Iwanow“, die am Volkstheater freitags Premiere hatte, kann man beide Wirklichkeiten hineinlesen.

Der verlotterte Wohnraum mit schmutzigen Möbeln und zerbrochenen Fenstern dahinter, mit versifftem Waschbecken, desolatem Ventilator und anderen Zeichen von Verfall könnte sich in einem verlassenen Wirtshaus in der Puszta, einem Wartesaal im Nirgendwo oder einem abgewohnten Landhaus in der russischen Provinz befinden. Solche Räume kennt man aus postkommunistischen Albträumen des lettischen Regisseurs Alvis Hermanis. Neue Dekadenz des Ostens. Hier wird sie vom Ungarn Victor Bodo vollstreckt (er schreibt sich laut Programmheft nun im Vornamen nicht mehr mit „k“, lässt auch einen Akzent im Nachnamen weg).

Alle Welt versinkt im Tagtraum

Bodo, den mit der neuen Volkstheater-Intendantin Anna Badora schon seit ihrer Zeit am Grazer Schauspielhaus viele Erfolge verbinden, füllt die Tschechow-Baracke in gut drei Stunden nicht nur mit der zu erwartenden Melancholie, sondern auch mit überraschenden Späßchen, schrägen Einfällen und sogar mit Charakter. Alle Welt versinkt im Tagtraum, manchmal schreckt sie aber kurz hoch. Elf Darsteller (einer fiel bei der Premiere aus, die Lücke wurde ungeniert überspielt) dürfen traurig, gelangweilt, originell, im Verhalten auffällig sein. Sie geben das fast durchwegs überzeugend, ihr Können hilft über einige eher platte Einfälle (Kampftrinken, Fliegenjagd) hinweg. Das Ensemble wird durch Klaus von Heydenaber am Klavier und Loukia Loulaki (Cello) atmosphärisch trefflich ergänzt. Gleich anfangs gibt es ein Signal: immer der gleiche Ton, endlos angeschlagen, ehe es zum Weinen sentimental wird.

Diese Inszenierung zählt zu den besten einer bisher eher durchwachsenen Saison – es ist eine ungewöhnliche Arbeit von Bodo, die sich deutlich von älteren unterscheidet. Das Lustvolle erhält hier Schwere. Prototypisch dafür ist Jan Thümer in der Titelrolle. Er ist erschöpft. Sein Landgut hat er nicht im Griff. Er fühlt sich schuldig. Die Liebe zu seiner Frau Anna Petrowna, geborene Sarah Abramson (Stefanie Reinsperger), ist erkaltet. Sie hat alles für ihn riskiert, ihre jüdischen Eltern haben sie wegen ihrer Heirat verstoßen, nun ist sie todkrank und leidet unter der Ablehnung des Gatten, der ein Techtelmechtel mit der Tochter der Nachbarn beginnt, denen er ein Vermögen schuldet. Zu den besten Szenen zählen jene, in denen Thümer und Reinsperger Bloßstellungen aller Art begehen. Beide haben auch Badeszenen, die frösteln machen. Sie sind dann nackt und bloß, wie Tschechow sie schuf.

Wortlos hackt zum Beispiel der Anna verkrampft verehrende Arzt (der großartige Gábor Biedermann) einen Eisblock in kleine Stücke und schüttet diese in die Wanne. Anna zittert. Zum Heulen traurig ist das Ehepaar dann in der direkten, intensiven Konfrontation. Iwanow hat neben Lethargie auch ein hohes Aggressionspotenzial. Seine Anklagen wirken wie ein Todesurteil für Anna. Sie weint. Schwer selbstmordgefährdet irrt er nackt durch sein Haus, dann reißt er mit bloßen Händen den Parkettboden auf. Er streitet mit dem Arzt, der ihm schwere Vorwürfe macht, mit dem Verwalter, der ihn betrügt: Thomas Frank gibt einen absurden Spaßmacher, hinter dessen Fassade grausame Berechnung steckt. Er rückt einmal sogar mit der Motorsäge an, im Hintergrund fallen jetzt die Bäume, Birken wohl. Auch Claudia Sabitzer als heiratswillige lustige Witwe und Stefan Suske als kauziger Graf spielen einprägsam. Steffi Krautz und Günter Franzmeier verkörpern als Ehepaar Lebedew mit Originalität ihren beherrschenden Geiz und seine betrunkene Willenlosigkeit. Martina Spitzer und Luka Vlatkovic geben übertrieben skurrile Dauergäste, die schamlos überall auftauchen, wo vielleicht etwas zu holen ist. Solch ein Milieu macht jeden fertig.

Die Hochzeit findet nicht statt?

Die Tage vergehen, eintönig wie ein immer gleicher Ton. Bald wird Iwanow Witwer sein, frei sein. Man ahnt jedoch, dass die Hochzeit mit Sascha, der Tochter der Lebedews (Nadine Quittner), die seine Finanzprobleme lösen könnte, nicht stattfinden wird. Ein verspanntes Fräulein, das bereits an den eigenen Gefühlen zweifelt, ein unfähiger Gutsherr mit dauerhaft schlechtem Gewissen und veritablem Burn-out – was haben die denn gemein? Lässt sich das arrangieren? Von der fast beliebig scheinenden Antwort hängt ab, ob wir uns alle hier, wir Gäste von Iwanow oder Geduldete der Lebedews, in einer Komödie oder einer Tragödie befinden.

„Iwanow“ von Anton Tschechow, 1887 als Komödie uraufgeführt, 1889 in einer Überarbeitung als Tragödie veröffentlicht, wird hier in der deutschen Übersetzung von Andrea Clemen gespielt, mit ungarischen Übertiteln.Nächste Termine: 22., 27., 30. März und 6. April.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.03.2016)

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