Weltschmerz in Europa

Brennpunkt Syrien, v. l.: Ali, Morgenstern, Karazissis und Khalaf.
Brennpunkt Syrien, v. l.: Ali, Morgenstern, Karazissis und Khalaf.(c) Marc Stephan
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Beim Steirischen Herbst hatte „Empire“, der finale Teil von Milo Raus Trilogie, seine österreichische Erstaufführung. Intelligent gemacht – und rührend.

Der Begriff Europa wurde am Freitag im Schauspielhaus Graz erweitert: Vier Protagonisten erzählten so persönliche wie auch brutale Geschichten in ihrer Muttersprache (mit deutschen Übertiteln). Neben dem lang schon auf dem Kontinent üblichen Griechisch und Rumänisch wurde Kurdisch und Arabisch gesprochen.

Der Schweizer Künstler Milo Rau denkt sich Europa großräumig und geschichtsbewusst. Für ihn ist dieser Kontinent voll imperialer Vergangenheiten Anlass und Ziel von Flucht, davon handelt seine Europa-Trilogie, deren Schlussteil beim Steirischen Herbst die österreichische Erstaufführung hatte: „Empire“ fokussiert auf den Bürgerkrieg in Syrien. Mit Imperium ist nicht die Supermacht USA gemeint, nicht Russland, sondern das alte Europa, das eine ungeheure Sogwirkung auf die Peripherie ausübt.

Die zwei Stunden, die vor allem aus Erinnerungen bestehen, mit sanfter Musik (Eleni Karaindrou) untermalt, illustriert durch Bilder und Filmsequenzen, gehen zu Herzen. War das alles echt? Oder wird hier nur gespielt? Vier außergewöhnliche Schauspieler lassen tief blicken. Dominant ist Familiäres, erzeugt wird mit Innensicht Allgegenwart, diese Menschen verbergen ihre Schwächen nicht. Das Stück ist höchst intelligent inszeniert, auch pathetisch, unangenehm, unerträglich, wenn zum Beispiel die Bilder von Toten, die vom syrischen Regime gefoltert wurden, großflächig und in Serie auf einer Leinwand gezeigt werden. Die Bekenntnisse wirken authentisch. Sie vereinnahmen den Zuseher, ziehen ihn auf die „richtige“ Seite der Geschichte. Ja, wir sind die Guten und wollen alle eine bessere Welt!

Das beeindruckende Quartett findet sich im verheerten syrischen Ort al-Qamishli ein, nahe der Türkei und dem Irak. Man sieht eine von Granaten beschädigte Fassade (Bühne: Anton Lukas). Sie wird gedreht. Dahinter liegt die Küche der Familie von Ramo Ali. Er ist nach Deutschland geflohen, kehrt kurz an den von ihm gezimmerten Tisch zurück und erzählt auf Kurdisch von seinen Erfahrungen, von der Kindheit, der fürsorglichen Mutter, dem harten Vater, den vielen Geschwistern, den Monaten in einem syrischen Gefängnis. Über der Küche ist dabei in Großaufnahme sein Gesicht eingeblendet. Je einer der vier bedient jeweils die Kameras, auch im Erzählen wird häufig abgewechselt. Man sieht auf der Leinwand auch Fotos, die den Darstellern wichtig sind.


Was bleibt? So laufen Schicksale ab: Der Syrer Rami Khalaf, nach Paris geflohen, ist auf der Suche nach seinem verschollenen Bruder, wie er auf Arabisch erklärt. Was bleibt? Manchmal eben nur ein Gruß der Mutter, den er auf seinem Smartphone aufgezeichnet hat. Oder das Bild eines Toten, der sein Bruder gewesen sein könnte. Das sind schwer erträgliche Szenen. Da wirkt es aufhellend, wenn der Grieche Akillas Karazissis über griechisch-russische Vorfahren, deutsche Wanderjahre und die Theaterzeit in Epidauros redet. Er vor allem bringt „Empire“ in den Kontext antiker Tragödien. „Orestie“, „Medea“. Auf die große Fremde des Euripides spielt auch Filmstar Maia Morgenstern an, die das Jüdische Theater in Bukarest leitet. Sie hat Erfahrung als Außenseiterin. Sie und Karazissis zeigen auch Humor, selbst wenn es um das KP-Regime in Rumänien oder die Junta in Athen geht.

Vier sympathische Menschen lassen die Zuseher kurz in ihren Lebensraum. Man rückt einander näher, im herbstlichen Graz, mitten in Europa. Wäre der Grund dafür – die massenhafte Vertreibung – nicht so deprimierend, wäre der Anspruch der Weltverbesserung mittels Schaubühne nicht so hoch, könnte man sagen: Es war ein wirklich unterhaltsamer Abend. Belehrend und verstörend ist das Finale von Milo Raus Trilogie allemal.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.10.2016)

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