Wiener Festwochen: Fett wie die russische Erde

Wiener Festwochen Fett russische
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Bei den Festwochen im Museumsquartier zeigt Frank Castorf "Nach Moskau! Nach Moskau!", eine Kombination aus "Drei Schwestern" und der Erzählung "Bauern". Castorfs Theater fordert und provoziert.

Wieder einmal Castorf. Schon wieder Castorf. Wird er es schaffen, das Publikum neuerlich zu packen? Nach der Pause der vierstündigen deutschsprachigen Erstaufführung von „Nach Moskau! Nach Moskau!“ – die Uraufführung war im Mai beim Tschechow-Festival in Moskau – ist der große Saal des Museumsquartiers halb leer. Das Geschrei, das exaltierte Spiel haben viele vertrieben. Die Verbliebenen jubeln – erschöpft.

Die Produktion kombiniert Tschechows „Drei Schwestern“ und die Erzählung „Bauern“. „Drei Schwestern“ sah man in den letzten Jahren oft. Die berühmteste Aufführung ist jene von Peter Stein. „Bauern“ handelt – sehr zeitgemäß, wenn man etwa an Verhältnisse in der Dritten Welt denkt – von einem Lakaien, der krank wird und mit seiner Familie aufs Land, zu seinen Eltern zieht, wo er grauenhafte Zustände vorfindet: Armut, Alkoholismus, Gewalt. Die Verbindung der beiden Geschichten ist klarer, wenn man „Bauern“ gelesen hat. Das Hin- und Herhüpfen zwischen den beiden Storys wirkt anfangs verwirrend. Castorf will Tschechow, der noch immer oft auf parfümierte Weise gespielt wird, den bösen Humor zurückgeben, der auch sein eigener ist. Die These ist richtig. „Drei Schwestern“ zeigt unter anderem die ungeheure passive Aggressivität wohl erzogener Leute. In dieses Milieu bricht die Frau des Bruders der drei Damen, Natalja, wie ein Komet ein. Sie trampelt auf sämtliche Zehen, stellt ständig neue Forderungen...


Keilerei im Sperrholz. Bert Neumann baute die Bühne, eindrücklich wie stets. Eine Sperrholzterrasse rechts, links ein Bretterverschlag, durch den die Akteure immer wieder durchbrechen. Hinten Birken. Irgendwann schneit es, die Schauspieler rutschen auf dem schwarzen Plastik, das den Boden bedeckt, öfter aus. Ihre Energie, ihre körperliche Artistik sind erstaunlich und eine Attraktion für sich.

Castorf hat immer ostwärts geblickt. Bei den russischen Typen ist er daheim. Die Atmosphäre in der Garnisonsstadt ist hundertprozentig authentisch – und doch auch sehr deutsch. Nach ihrem Besuch auf dem Lande ziehen Mutter und Tochter aus der Geschichte „Bauern“ zurück nach Moskau, bettelnd. Mithilfe eines unveröffentlichten, weil zensurierten Kapitels aus der Erzählung zieht Castorf die Story in die Gegenwart: Die Tochter wird Prostituierte bei ihrer Tante, die der gleichen Profession nachgeht. Die gläubige Mutter schaut weg. Ohne Geld geht gar nichts. Der Vater aus „Bauern“ bettelt einen der Adeligen um ein Fläschchen an. Weil die „Bauern“-Familie keinen Rubel hat, wird am Ende sogar der Samowar konfisziert. Ein aalglatter Kerl trägt ihn weg und faselt von einer höheren administrativen Instanz, an die sich die Familie wenden kann. Derselbe Schauspieler verkörpert auch Werschinin in den „Drei Schwestern“, der alberne Tiraden vom besseren Leben in 300 Jahren schwingt. Die unglückliche Lehrersfrau Mascha verliebt sich in ihn. Stundenlang könnte man von den raffinierten, witzigen, hintersinnigen und perfiden Vernetzungen schwärmen, die Castorf zwischen den beiden Plots spinnt.

Doch es wird Zeit, die grandiosen Schauspieler zu würdigen, die nicht nur turnen und deklamieren müssen, sondern das auch in mehreren Sprachen, sogar in Russisch. Wie köstlich muss diese Aufführung in Moskau gewirkt haben! Da sind zunächst einmal die drei Sisters: Maria Kwiatkowsky (Irina) sieht Sophie Rois ähnlich, Star vieler Volksbühnen-Aufführungen, auch in Wien etabliert. Irinas ungeliebter Verlobter Tusenbach (Lars Rudolph) – der eigentlich vom anderen Ufer ist, wie es öfter vorkommen soll beim Militär – fällt beim Duell. Elegant und streng Olga (Silvia Rieger), elegant und widerspenstig Mascha (Jeanette Spassova). Die markantesten Figuren der „Drei Schwestern“-Familie sind Andrej (Trystan Pütter) und seine Frau Natalja. Sie unterdrückt den Softie, er rächt sich, indem er alles Geld verspielt.


Marsch in den goldenen Westen! Diese Natalja (Kathrin Angerer) ist ein wahrhaft hinreißendes Biest, das sich wie eine Zecke in jedermann verbeißt und nicht loslässt, bis sie hat, was sie will. Natalja hat als moderne russische Frau, wie man sie auch in Wien jetzt oft sieht, das vorletzte Wort: ein Wesen, das sich stets seinen Vorteil krallt. Der Arzt (Bernhard Schütz) ist ein trauriger, vierschrötiger Zyniker in Uniform.

Eine zauberhafte Lehrerkarikatur gelingt Sir Henry: Maschas Ehemann marschiert vorgebeugt mit steifem Hals und parliert fließend Englisch. Die Alten trauern der Leibeigenschaft, dem alten System nach, in dem sie wenigstens noch was zu essen hatten: Bärbel Bolle, eine fantastische Type für die Kinderfrau Anfissa, Michael Klobe spielt den tauben Greis Ferapont. Milan Peschel ist der unheimlich beredte Werschinin, Harald Warmbrunn als Unterleutnant und als Koch wirkt wie die Persiflage eines Sehers aus der griechischen Tragödie: resigniert und sehr vergesslich.

Castorfs Theater irritiert, nicht nur wegen des vehement bizarren Spektakels, auch wegen der ausgeprägt linken Perspektive, die im Programm ausführlich erklärt wird. Die Theorie ist sehr wichtig, doch legt sie das Theater nicht trocken, sondern belebt es. Castorfs Welt ist nicht freundlich und schon gar nicht warm, sein Blick auf die Wirklichkeit kalt und grimmig. Wenn man sich daran gewöhnt hat, muss man zugeben: Es hat seine Richtigkeit damit.


Was tun mit dem Lumpenproletariat?Diese Aufführung zeigt die Schattenseite der heiteren Konsumwelt, die „Erniedrigten und Beleidigten“ von Dostojewski, auch ihn hat Castorf des Öfteren inszeniert. Gewisse Sätze fahren wie Klingen ins Gemüt: „Wenn ein großes Volks nicht mehr glaubt, dass es allein die Wahrheit ins sich trägt, (...) verwandelt es sich augenblicklich in ethnografisches Material“ (Dostojewski). Das gilt für Russland, vielleicht aber auch für Amerika und den gesamten Kampf der Mächte („Clash of Civilisations“, Huntington), den wir täglich in den Medien sehen. „Marx und Engels schlossen das Lumpenproletariat von der Revolution aus. Das war der Moment, als die stalinistische Perversion geboren wurde.“ (Heiner Müller) Lumpenproletariat gibt es auch heute.

Castorfs Theater fordert, strengt an, quält, provoziert – aber nicht auf billige Weise. Fett wie die russische Erde sind in dieser Aufführung viele Figuren. Fett ist aber auch die Substanz – sofern man so etwas erträgt und durchhält.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.06.2010)

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