Die "Kinder der Sonne" verpassen den Moment

Kinder Sonne verpassen Moment
Kinder Sonne verpassen Moment(c) APA/HANS KLAUS TECHT (HANS KLAUS TECHT)
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Im Volkstheater macht Nurkan Erpulat aus Gorkis Analyse kurz nach und Jahre vor der Revolution eine Show der Desillusion. Die Ideen sprühen, ermüden aber auch.

Der Nachwuchsregisseur des Jahres 2011 hat für seine Interpretation von Maxim Gorkis „Kinder der Sonne“ die Grenzen des Simultanen ausgereizt. Nurkan Erpulat zeigt am Wiener Volkstheater (Premiere war am Freitag) nicht nur die neun Darsteller des russischen Stückes aus dem Jahre 1905 fast ständig auf der Bühne, ob sie nun spielen oder zuschauen, sondern auch acht Bühnenarbeiter. Sie sind das Volk.

In einer eindrücklichen Szene lässt der türkisch-deutsche Jungstar die Macht der Masse richtig spüren. Zwei Arbeiter tragen eine Tischplatte, auf der eben Jelena, die verzweifelt laszive Frau des Forschers Protassow (Patrick O. Beck), große Reden geschwungen hat. Heike Kretschmer gelingt diese pathetische, romantische, aufgeklärte Rhetorik wirklich großartig – da wird nach lautem Kommando von Hausmeister Ibrahim Öztoplu die Platte auf den Boden gelegt. Pause. Eine Zigarette lang. Der jüngere Arbeiter verspeist sogar noch einen Apfel. Statisch sehen die Schauspieler diesem Loblied der Arbeit zu. Ihre Wirkung zeigt sich genau in dem Moment, als eben nichts getan wird.

Ähnlich gelassen hat der Vierakter auch begonnen, mit der Kinderfrau Antonowa (Inge Maux), die eine abschüssige Bühne (Magda Willi) betritt und mit großem Besen Granulat von einer Plattform fegt. So sieht Fleiß aus, er besteht auch darin, dass Helfer an langen Seilen Luster hochhalten, die eine große, rechteckige, goldene Sonnenscheibe beleuchten. Auf der leer gefegten Fläche darf dann Protassow seine Pflanzen hinstellen, mit denen er nutzlos scheinende Genetikexperimente macht.

Die künstlich gedehnten Szenen, das Fegen und die Zigarettenpause, sind überhaupt nicht langweilig, sondern Gorki pur (er schrieb das von Ulrike Zemme flott übersetzte Stück nach dem St. Petersburger Blutsonntag in Festungshaft). Russlands Intelligenz, die Kinder der Sonne, streben nach dem Höchsten, nach Glück. Weil sie bei diesem Blick zum Himmel aber geblendet werden und betört von dekadenter Musik, weil sie nicht sehen, was tatsächlich um sie herum und mit ihnen geschieht, verpassen sie den Moment – für private Erfüllung ebenso wie für die Revolution. Sie sind reformwillig, aber weltfremd. Nach dem ersten Akt singen sie gemeinsam „Fein sein, beinander bleiben“. Werch ein Illtum! Von den Bürgern zieht nur Hausbesitzer Nasar Konsequenzen aus dem Gespür für gesellschaftliche Veränderung – Günther Wiederschwinger gibt ihn als Entrepreneur im Maßanzug. Der weiß, wann er abhauen muss.

Erpulats Inszenierung ist atmosphärisch gelungen. Ermüdend wird seine Interpretation allerdings, wenn er allzu einfallsreich sein will und im Symbolismus wildert. Die Cholera wütet in der Stadt, da fallen Gestalten um, da krachen Luster herunter. Zuweilen ist die Aufführung also überinterpretiert, dann zeigen sich auch klischeehafte Schwächen im Ensemble, das oft aber zu glänzen weiß.

Alexander Lhotzky etwa geht in seiner Rolle als brutaler Schlosser Jegor richtig aus sich heraus, als prügelnder Gastarbeiter, der nach Anerkennung lechzt. Er wird am Schluss den Mob anführen, der den Genetiker erschlagen will. Fast schon übertrieben, aber mit ungeheurer Intensität spielt Claudia Sabitzer die liebestolle Melanija. Der Kontrast zu dem von ihr angehimmelten Denker Protassow könnte nicht stärker sein. Im Vergleich dazu ist sogar die komplexbehaftete, tragische Beziehung zwischen Melanijas Bruder Boris und Protassows nervenkranker Schwester Lisa dezent; Simon Mantei spielt den hilflos Werbenden exzellent, Nanette Waidmann die Neurotikerin mit rührend jungem Engagement. Neben diesen seltsamen Paaren ist das schwüle Techtelmechtel zwischen der temperamentvollen Jelena und dem hungrigen Künstler Wagin (Günter Franzmeier), das sich meist im Hintergrund an einem Klavier abspielt, fast schon gewöhnlich.

Das Volkstheater aber wagt etwas Ungewöhnliches: Gorkis alter Sonnentraum wird neu gedeutet. Und erhält sogar wieder etwas Glanz.

Nächste Termine: 2., 8., 14., 18., 22., 26. und 30. Mai, 19.30 Uhr

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.04.2012)

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