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Tocotronic: Lieb wie Lego, und ähnlich limitiert

(c) EPA (HERBERT P. OCZERET)
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Die wohl überschätzteste Band Deutschlands debütierte im Wiener Burgtheater: Tocotronic agierten über weite Strecken indifferent. Die Fans waren trotzdem happy. Der diensthabende Polizist wippte mit.

Mysteriöses Blubbern und schrille Kinderliedfetzen sorgten zu Beginn für mentale Entschleunigung. Dann trippelten die nach eigenen Angaben plüschophilen Buben auf die Bühne und bauten sofort zuversichtlich an ihrer Kunst. Die ist lieb wie Lego. Auch ähnlich limitiert. Entwendetes wird nach eigenen Plänen zusammengesetzt, geklaute Metaphern werden mit Second-Hand-Beats zusammengeführt und schon hat man Nährstoff für das, was man heutzutage salopp Diskurs nennt.

Dirk von Lowtzows politisch korrekte Charisma-Armut und seine herzige Stimme sorgten rasch für wohliges Gefühl im prall gefüllten Auditorium. Seit 20 Jahren gibt es Tocotronic: von Anbeginn die perfekte Band für die Generation „Nur-nicht-zu-viel-Wollen“. Immer schon versandeten ihre Losungen im Niemandsland des Apolitischen. Offenbar waltet in ihrer Welt eine „Dialektik des Deliriums“, wie es Romancier Wilhelm Genazino einmal formulierte. Was das ist? „Kaum einer tut etwas, kaum einer erreicht etwas, kaum einer verdient etwas, und trotzdem geht alles immerzu weiter.“ So sind die Tocotronic-Songs perfekte Illustration der Antriebsschwäche einer ganzen Generation.

Tanzen mit Händen in den Hosensäcken

„Im Zweifel für den Zweifel“, „Die Idee ist gut, doch die Welt noch nicht bereit“ und „Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein“, waren doch, milde Ironie eingerechnet, nichts als Leerformeln für „ewige Studenten“ und selbstzufriedene Bobos – die Fanbasis der Kombo. Im mit wimmernder Lapsteelgitarre verzierten „Chloroform“ wisperte von Lowtzow lustvoll ein Loserszenario: „Niemand wird beschuldigt, keine Meinung wird gesagt, alles ist entschuldigt, kein Gefühl wird ausgedrückt, Schwäche wird gehuldigt, sie ist unser Glück!“ Dazu tanzten wohlfrisierte Jünglinge verschämt, die Hände in den Hosensäcken. Trotz dieses albernen Lieds war nicht alles unerträglich: „Ich will nüchtern für dich bleiben“, offensichtlich von Will Oldhams „I Tried To Stay Healthy For You“ entlehnt, erfrischte durchaus.

Und das stark an John Cales verschummerte Ästhetik zu Zeiten des Albums „Artificial Intelligence“ erinnernde „Vulgäre Verse“ entwickelte sogar ziemlichen Charme. Doch auch hier landete der Protagonist bald „hilflos und schwach im Palasthotel“. Cales forcierte Künstlichkeit, also Strategien der permanenten Verrätselung, praktiziert von Lowtzow mit Überzeugung. Authentizität ist ihm bei Liedkunst ein Gräuel. Bloß: Ungenaue Schmerzen zu besingen evoziert letztlich nur vage Sounds. Oder ist es umgekehrt?

Selbst als sich Tocotronic wie im Opener „Im Keller“ über des Menschen Sterblichkeit beschwerten, klang es, als ob sie das nicht rasend viel anginge. Auch im wuchtigeren „Abschaffen“ ging es um die Zumutung der Mortalität: Allein, die Utopie einer Abschaffung des Todes schien nur Frucht der permanenten Tocotronic-Ironie. Um die Zertrümmerung des Ich ginge es ihm, sagt von Lowtzow gern. Wuchernde Beliebigkeit in der Deutung ist die Folge. Auf die Songs kann fast alles projiziert werden. Tut man es gemeinsam, wie bei diesem Konzert, hilft es beim Aushalten von furchtsamen Zuständen. So wirkte die verschworene Tocotronic-Gemeinde im Theatertempel wie eine Art Religionsgemeinschaft, der Kuscheln im Konformismus das (vermeintliche) Anderssein ermöglichte.

An einer Masturbationsszene gescheitert

Man rückte zusammen, sah sich mit wissenden Blicken an, gluckste zu von Lowtzows Bekenntnis, dass ihm der Auftritt in der Burg besondere Genugtuung verschaffe. Warum? Der nicht unsympathische Sänger versuchte sich einst als Schauspielschüler in Graz. Er scheiterte, sagte er zumindest, an der Masturbationsszene in Wedekinds „Frühlings Erwachen“. Nachsatz: „Obwohl ich doch so viel Übung hatte.“ Dann erfreuten sich Altfans an der Schunkelmelodie von „Hi Freaks“ und am kompromissloser krachenden „This Boy Is Tocotronic“. Die bis auf solch raren Momente narkotisierend nett aufspielende Kombo verlockte am Ende sogar den diensthabenden Polizisten zum Mitwippen. Ein Alarmzeichen für jede Subkultur . . .

Zur Band

Tocotronic sind Dirk von Lowtzow (Gesang, Gitarre), Jan Müller (Bass) und Arne Zank (Schlagzeug), seit 2004 ist Keyboarder Rick McPhail dabei. Gleich nach der Bandgründung 1993 wurden Tocotronic zu Zentralfiguren der damals angesagten Diskurspop-Strömung „Hamburger Schule“, dank Slogan-Songs wie „Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein“. Relativ schnell kam der Mainstream-Erfolg: Alle Tocotronic-Alben seit „K.O.O.K“ (1999) schafften es in die deutschen Top Ten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.02.2013)

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