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Song Contest: Die Lady mit Bart spaltet Europa

Conchita Wurst
Conchita Wurst(c) REUTERS
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Dieser Hype war nicht planbar: Nach massiver Kritik an Travestiekünstlerin Conchita Wurst ist die „Queen of Austria“ noch vor dem Finale Liebling des Sing-Grand-Prix.

Für vielseitig interessierte TV-Zuseher war der Donnerstagabend eine Herausforderung: hier das EU-Wahl-Duell mit den Spitzenkandidaten Jean-Claude Juncker und Martin Schulz, dort das zweite Semifinale des Eurovision Song Contest, bei dem sich Österreichs bärtige Kandidatin Conchita Wurst ins Finale sang. Zwei Bewerbe, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben. Doch in diesem Jahr soll das anders sein: Der Sing-Grand-Prix hat auch politisches Gewicht, wenn es nach so manchem Beobachter geht. Mittendrin ist Österreichs Songcontest-Teilnehmer Tom Neuwirth, der mit langer Mähne und perfekt nachgezogenem Bart die Gemüter erregt. Dabei bleibt offen, ob es eher Zeichen für Europas Reife oder Rückschrittlichkeit ist, dass im Jahr 2014 ein homosexueller Travestiekünstler für so viel Aufsehen sorgen kann.

Als „Queen of Austria“ gilt Conchita Wurst schon vor dem Finale des Singzirkus. Ihre Ballade „Rise Like a Phoenix“ sei ein perfekter James-Bond-Song, schwärmen Fans. Lob kommt von der BBC und den deutschen Nachbarn: Die „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ schrieb, beim Jury-Halbfinale am Mittwoch habe sie „die mit Abstand beste Darbietung“ geliefert; Spiegel Online titelte seinen Halbfinalreport mit „Tolle Wurst!“; der für seine scharfen Kritiken bekannte Medienblogger Stefan Niggemeier kam auf Twitter nicht aus dem Schwärmen heraus. Und Sänger Boy George zwitscherte: „@ConchitaWurst Ha! I love it“.

Reizfigur Wurst in Russland

Dieser Hype war nicht vorhersehbar. Paradoxerweise haben erst Hetze und Kritik an der Kunstfigur ihre Bekanntheit und Beliebtheit gesteigert. Der Protest begann im Kleinen: Als der ORF bekannt gab, die Vorjahreszweitplatzierte ohne (kostspielige) Vorausscheidung in Kopenhagen antreten zu lassen, gab es einen Miniaufschrei und die Facebook-Seite „Nein zu Conchita Wurst beim Songcontest“ mit bislang 38.000 Unterstützern.

Erst seit ein paar Tagen kommt laute Kritik aus Russland und Weißrussland an der „Sodom Show“ und der Reizfigur Wurst. Beflügelt durch den aktuellen politischen Konflikt zwischen der Ukraine und Russland entstand so ein simpler Reflex: Eine Stimme für Conchita Wurst ist – zumindest für politisch wenig informierte Beobachter – automatisch eine Stimme gegen Russland und gegen Ausgrenzung. Der liberale Westen sieht sich dem engstirnigen Osten moralisch überlegen. Umgekehrt fühlt sich Russland einmal mehr vom Westen verfolgt. Wobei auch hier Differenzierung geboten wäre: In Blogs und Foren zeigt sich, dass Conchita Wurst auch in Russland viele Anhänger hat.

Dass Deutschland so für die Ösi-Kandidatin schwärmt, lässt sich auch mit dem Zusammenrücken der Nachbarländer erklären, das sich vor allem durch soziale Netzwerke ergeben hat: Via Twitter und Facebook verbreiten sich Texte über solche Ereignisse rasanter, die Medienschaffenden kennen einander immer besser. Und eine „FAZ“-Kritik oder ein Porträt in der „Welt“ überzeugt manchen Österreicher vielleicht mehr als eine Hymne in einem heimischen Blatt.

Angelehnt an den Austriazismus „Ist doch wurscht“ wollte Tom Neuwirth mit seinem Kunstnamen klarmachen, dass Geschlecht oder sexuelle Ausrichtung egal sein sollten. Ganz „wurscht“ ist das Europa offenbar nicht, im Jahr 2014 sind die Wurst-Fans aber deutlich in der Überzahl.

www.Live-Ticker zum Songcontest-Finale heute, Samstag, ab 20.15 Uhr unter diepresse.com/esc

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.05.2014)

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