Pop

Cerrone: Orgie unter der Discokugel

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Hedonismus und Rebellion lassen sich verbinden: Das zeigt das Werk des französischen Discopioniers Cerrone. Ein feines Mittel gegen das Weltuntergangsgefühl heutiger Jugend.

Eine kleine Epiphanie drängte mich dazu, die Bassdrum ins Zentrum meiner Musik rücken“ erklärt der aus Vitry-sur-Seine, einem Vorort von Paris, stammende Schlagzeuger Jean-Marc Cerrone der „Presse“. Sein zähflüssiges Englisch, das – trotz 20 Jahren in Los Angeles – noch immer unter starkem französischen Akzent leidet, kann nicht verbergen: Dieser heute 62-jährige Mann war ein wichtiger Pionier. Er machte Disco schon, als es noch nicht einmal diesen Namen gab.

Seit Daft Punk 2013 mit ihrem Album „Random Access Memory“ auf quasi geschichtsphilosophische Weise das Genre Disco als Wurzel aller modernen elektronischen Tanzmusik definiert haben, forschen viele junge Menschen nach den Ursprüngen einer Tanzkultur, die zunächst nur als ephemeres Phänomen begriffen wurde. Dass Disco schon in seiner Frühphase mehr war als geigenumflorter Eskapismus unter dem Diktat eines Viervierteltakts mit der Bassdrum auf jedem Schlag gespielt, illustrieren Cerrones Mittsiebziger-Alben perfekt.

Darunter ist „Supernature“ (1977), ein frühes Zeugnis ökologischen Denkens in der Popmusik. „Der verderbliche Einfluss des Geldes wurde damals erstmals richtig spürbar“, sagt Cerrone heute, „dagegen rebellierte ich auf meine einfache Art.“ Besonders gut glückte dies im von H. G. Wells' Fantasy-Roman „The Island of Dr. Moreau“ inspirierten Titelstück. Mensch-Tier-Mischwesen, die an die Chimären im Roman erinnern, tummelten sich auf dem Plattencover – und im Text: „The monsters came, made you realize your shame; it's so sad you lost the only world you had“, sangen laszive Damen zum bedrohlichen Blubbern der ARP-Synthesizer.

„Von Kraftwerk beeinflusst“

Die Plattenfirma war entsetzt. Sie weigerte sich, den Titeltrack als Single zu veröffentlichen. „Mir war schon klar, dass ich da etwas Bizarres geschaffen hatte“, sagt Cerrone heute nicht ohne Stolz. „Das Stück ist von Kraftwerk beeinflusst, die ich schon früh sehr schätzte.“ Schließlich setzte er sich durch, und eine verkaufte Auflage von acht Millionen sprach eine deutliche Sprache.
Aber schon sein Debütalbum „Love In C Minor“ (1975) war ein Millionenseller. Aufgenommen wurde es in den Londoner Trident Studios, wo schon die Beatles, Lou Reed und David Bowie Welthits eingespielt hatten. „Trident hatte einen tollen Ruf“, erzählt Cerrone: „Zunächst war ich etwas enttäuscht, weil das Studio recht eng und erstaunlich schmutzig war. Aber es hatte diesen warmen Sound.“ Ideal für die Erfordernisse des Protodisco. Zu den Ingredienzien des Cerrone-Klangbilds zählten damals schon ein weich groovender Fender-Bass, flirrende Streicher und jede Menge stöhnender Ladies: Neben dem Gestus der Rebellion war es der Hedonismus, der den Franzosen vorantrieb. Die anhebende Weltkarriere verdankte sich einem Zufall. Ein irrtümlich von seiner Plattenfirma in die USA gesendetes Paket mit „Love In C Minor“-Alben löste dank begeisterter DJ's einen Dancecraze in New York aus. Der Erfolg stachelte den Ehrgeiz an: Die im Studio von Sängerinnen vorgetäuschten Geräusche der Leidenschaft waren Cerrone auf einmal nicht mehr genug. Für sein zweites Album „Cerrone's Paradise“ ließ er sich etwas Neues einfallen: „Mir ging es um Authentizität, also organisierte ich eine Sexorgie und nahm sie auf.

Am Cover krümmte sich eine nackte Dame auf einem Kühlschrank, aus dessen Tür eine undefinierbare, weiße Flüssigkeit rann. Was aus heutiger Sicht eindeutig sexistisch anmutet, galt damals als Versuch einer Befreiung aus den Zwängen der Bürgerlichkeit. Dieser Drall zur Sinnlichkeit prägte nicht nur den französischen Disco jener Jahre, sondern später auch den melodischen French House von St. Germain, Modjo und Cassius. Und so ist es kein Wunder, dass sich viele heutige Protagonisten der international so erfolgreichen französischen Tanzszene auf Cerrone als Gründervater berufen.

Die nun erschienene Doppel-CD „The Best Of Cerrone Productions“ enthält deshalb nicht nur Produktionen des Meisters, sondern auch verschärfte Neudeutungen von anerkannten jüngeren Kräften wie Dimitri from Paris, Alan Braxe und A-Trak. Mit etwas vertrackteren Rhythmen peppen sie bekannte Cerrone-Songs auf und kämpfen ähnlich wie ihr Held gegen die Flüchtigkeit der durchtanzten Nächte. Ein Highlight ist die Neudeutung von „Supernature“ durch Beth Ditto. Die Sängerin, die sonst in der Band Gossip abrockt, hatte immer schon eine Schwäche für epische Dancetracks. Über sehnsuchtsvollem Gefiedel und den trockenen Beats der französischen Electro-Rock-Band The Shoes entriegelt sie ihr mächtiges Organ, als gälte es ein letztes Bacchanal auszurufen, bevor die Welt untergeht. Die derzeit aktuelle Version des Tanzes am Vulkan besteht wieder einmal in spasmodischen Bewegungen zum blitzenden Licht von Discokugeln. Und was sagt Cerrone zu diesem leicht ordinären Update seines Klassikers? Ganz schlicht: „C'est magnifique!“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.01.2015)

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